Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
ihren schweren, mächtigen Körper auf diesen schwachen Wurzeln.
Vom Sturm gekippt, fielen die Bäume rücklings um, alle mit den Köpfen in dieselbe Richtung, und starben ausgestreckt auf einer Schicht von weichem dicken Moos von hellroter oder hellgrüner Farbe.
Sie machten sich fertig für die Nacht, schnell und routiniert.
Und nur Aschot und Malinin konnten gar nicht zur Ruhe kommen.
»Was habt ihr denn?«, fragte Pugatschow.
»Aschot will mir hier dauernd weismachen, daß Adam aus dem Paradies nach Ceylon vertrieben wurde.«
»Wie, nach Ceylon?«
»Das sagt man bei ihnen, den Mohammedanern«, sagte Aschot.
»Und was bist du, Tatare?«
»Ich bin kein Tatare, meine Frau ist Tatarin.«
»Das habe ich noch nie gehört«, sagte Pugatschow lächelnd.
»Ja ja, ich habe es auch nie gehört«, stimmte Malinin ein.
»Gut – jetzt schlaft!..«
Es war kalt, und Major Pugatschow wachte auf. Soldatow saß da, die MPi auf den Knien, ganz Aufmerksamkeit. Pugatschow legte sich auf den Rücken, suchte mit den Augen nach dem Polarstern – dem Lieblingsstern der Fußgänger. Die Sternbilder lagen hier anders als in Europa und in Rußland, die Karte des Sternenhimmels war ein wenig gedreht, und der Große Bär war zur Horizontlinie verrückt. In der Tajga war es schweigsam und streng; die gewaltigen knorrigen Lärchen standen weit voneinander entfernt. Der Wald war voll von dieser alarmierenden Stille, die jeder Jäger kennt. Diesmal war Pugatschow nicht der Jäger, sondern das Tier, dessen Spur man folgt – die Waldstille war für ihn dreifach alarmierend.
Das war seine erste Nacht in Freiheit, die erste freie Nacht nach den langen Monaten und Jahren des schrecklichen Kreuzwegs von Major Pugatschow. Er lag da und dachte zurück – wie das begann, was jetzt vor seinen Augen ablief wie ein spannender Film. Als spielte Pugatschow von eigener Hand den Kinofilm aller zwölf Leben so ab, daß statt des langsamen täglichen Kreisens die Ereignisse mit ungeheurer Schnelligkeit vorüberflogen. Und dann der Schriftzug – »Ende des Films« – sie waren in Freiheit. Und der Beginn des Kampfs, des Spiels, des Lebens ...
Major Pugatschow erinnerte sich an das deutsche Lager, aus dem er 1944 geflohen ist. Die Front näherte sich der Stadt. Er arbeitete als Lastwagenfahrer innerhalb des riesigen Lagers, fuhr Müll ab. Er erinnerte sich, wie er mit Vollgas den einreihigen Stacheldraht durchbrach und die eilig eingerammten Pfähle ausriß. Die Schüsse der Posten, die Schreie, die rasante Fahrt durch die Stadt, in unterschiedliche Richtungen, das verlassene Fahrzeug, in den Nächten der Weg zur Frontlinie und der Empfang – das Verhör in der Sonderabteilung. Anklage wegen Spionage, und Urteil – fünfundzwanzig Jahre Gefängnis.
Major Pugatschow erinnerte sich, wie die Emissäre Wlassows mit seinem »Manifest« kamen, wie sie die hungrigen, erschöpften, abgehärmten russischen Soldaten besuchten.
»Eure Macht hat sich längst von euch losgesagt. Jeder Kriegsgefangene ist ein Verräter in den Augen eurer Macht«, sagten die Wlassow-Leute. Und sie zeigten Moskauer Zeitungen mit Reden und Befehlen. Die Kriegsgefangenen hatten das schon gewußt. Nicht umsonst wurden nur den russischen Kriegsgefangenen keine Päckchen geschickt. Franzosen, Amerikaner, Engländer – die Kriegsgefangenen aller Nationalitäten erhielten Päckchen und Briefe, für sie gab es Landsmannschaften und Freundschaft; und die Russen hatten nichts, außer dem Hunger und ihrer Erbitterung gegen alles auf der Welt. Kein Wunder, daß viele Häftlinge aus deutschen Kriegsgefangenenlagern in die »Russische Befreiungsarmee« eintraten.
Major Pugatschow hatte den Wlassow-Offizieren nicht geglaubt – solange, bis er selbst die Rotarmisteneinheiten erreichte. Alles, was Wlassows Leute gesagt hatten, war wahr. Der Staat brauchte ihn nicht. Der Staat fürchtete ihn.
Dann kamen beheizte Güterwaggons mit Gittern und Begleitposten – der vieltägige Weg in den Fernen Osten, das Meer, der Schiffsbauch und die Goldbergwerke des Hohen Nordens. Und der Hungerwinter.
Pugatschow richtete sich auf und setzte sich hin. Soldatow winkte ihm zu. Eben Soldatow hatte die Ehre gebührt, diese Sache anzufangen, obwohl er als einer der letzten zur Verschwörung dazugestoßen war. Soldatow hatte keine Angst bekommen, nicht den Kopf verloren, sie nicht verraten. Ein feiner Kerl, Soldatow!
Zu seinen Füßen liegt der Fliegerhauptmann Chrustaljow, der ein ähnliches Schicksal
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