Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
Stimme Soschtschenkos Erzählung »Limonade«. Der Conférencier beugte sich zu mir:
»Gib mir Feuer.«
»Hier.«
»Du wirst es nicht glauben«, sagte plötzlich der Konferencier, »wenn ich nicht wüßte, wer liest, würde ich denken, es ist diese Kanaille Skorossejew.«
»Skorossejew?« Ich begriff, an wessen Intonation mich die Stimme auf der Bühne erinnerte.
»Ja. Ich bin ja Esperantist. Verstanden? Die Weltsprache. Nicht irgendein »bejsick inglisch«. Meine Haftstrafe habe ich auch für Esperanto. Ich bin Mitglied der Moskauer Gesellschaft der Esperantisten .«
»Artikel achtundfünfzig – sechs? Für Spionage?«
»Klar.«
»Zehn?«
»Fünfzehn.«
»Und Skorossejew?«
»Skorossejew ist Stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft. Er ist es, der alle verkauft, allen Verfahren angehängt hat ...«
»So ein kleiner?«
»Ja ja.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Ich weiß nicht. Ich würde ihn eigenhändig erwürgen. Ich bitte dich als Freund«, der Schauspieler und ich kannten uns zwei Stunden, nicht länger, »wenn du ihn siehst, wenn du ihn triffst, schlag ihn direkt in die Fresse. In die Fresse, und die Hälfte deiner Sünden ist dir vergeben.«
»Tatsächlich die Hälfte?«
»Ist dir vergeben, vergeben.«
Aber der Leser von Soschtschenkos Erzählung »Limonade« war schon von der Bühne abgetreten. Das war nicht Skorossejew, sondern ein Baron, lang und zart wie ein Großfürst aus dem Geschlecht der Romanows, ein Baron, Baron Mandel – ein Nachkomme Puschkins. Ich war enttäuscht, als ich den Nachkommen Puschkins sah, der Conférencier aber führte schon das nächste Opfer auf die Bühne. »Über grauer Meeresfläche bläst der Wind Gewölk zusammen ...«
»Hören Sie«, flüsterte der Baron, zu mir geneigt, »ist das etwa ein Gedicht? › Winde wehen, Donner grollen ‹? Ein Gedicht ist etwas anderes. Ein schrecklicher Gedanke, daß zur selben Zeit, im selben Jahr, Tag und Stunde, Blok ›Beschwörung durch Feuer und Finsternis‹ geschrieben hat und Belyj ›Gold im Azur‹ ...«
Ich war neidisch auf das Glück des Barons – sich ablenken, sich in Gedichte flüchten, sich verstecken, verkriechen zu können. Ich war dazu nicht in der Lage.
Nichts war vergessen. Und viele Jahre waren vergangen. Ich fuhr nach Magadan nach meiner Befreiung und versuchte, mich tatsächlich zu befreien, dieses schreckliche Meer zu überqueren, über das man mich vor zwanzig Jahren an die Kolyma gebracht hatte. Und obwohl ich wußte, wie schwer das Leben auf meinen unendlichen Wanderschaften werden würde, – wollte ich auch nicht eine Stunde freiwillig auf der verfluchten Erde der Kolyma bleiben.
Mein Geld war knapp. Ein Auto, das ich anhielt – ein Rubel pro Kilometer –, brachte mich am Abend nach Magadan. Weißer Nebel hüllte die Stadt ein. Ich habe hier Bekannte. Wahrscheinlich. Aber Bekannte sucht man an der Kolyma am Tag, nicht in der Nacht. Nachts macht selbst einer bekannten Stimme niemand auf. Ich brauche ein Dach, eine Pritsche, Schlaf.
Ich stand am Busbahnhof und schaute auf den Boden, der ganz mit Körpern, Gepäckstücken, Säcken und Kisten bedeckt war. Im äußersten Fall ... Nur war es hier so kalt wie im Freien, vielleicht fünfzig Grad. Der eiserne Ofen wurde nicht geheizt, und die Tür ging ununterbrochen.
»Wir kennen uns wohl?«
In diesem grimmigen Frost freute ich mich sogar über Skorossejew. Und wir drückten einander in Handschuhen die Hand.
»Komm zu mir zum Übernachten, ich habe ein eigenes Haus. Ich bin ja schon lange frei. Habe auf Kredit gebaut. Sogar geheiratet.« Skorossejew lachte. »Trinken wir Tee ...«
Und es war so kalt, daß ich zustimmte. Lange schleppten wir uns über die Hügel und durch die tiefen Radspuren des nächtlichen Magadan, das von kaltem, trüb-weißem Nebel verhüllt war.
»Ja, ich habe ein Haus gebaut«, sagte Skorossejew, während ich rauchte und mich erholte, »auf Kredit. Ein staatlicher Kredit. Ich habe beschlossen, ein Nest zu bauen. Ein nördliches Nest.«
Ich trank mich am Tee satt. Legte mich hin und schlief ein. Doch ich schlief schlecht, trotz meines weiten Wegs. Etwas war schlecht gewesen am gestrigen Tag.
Als ich aufgewacht war, mich gewaschen und mir eine Papirossa angesteckt hatte, begriff ich, warum der gestrige Tag schlecht gewesen war.
»Ich gehe jetzt. Ich habe hier einen Bekannten.«
»Lassen Sie doch Ihren Koffer hier. Wenn Sie Ihre Bekannten gefunden haben, kommen Sie wieder.«
»Nein, ich mag nicht ein zweites Mal
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