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Linksaufsteher: Ein Montagsroman

Linksaufsteher: Ein Montagsroman

Titel: Linksaufsteher: Ein Montagsroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Sachau
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aufwachst?«  
    »Nein. Von einem Mädchen mit Zöpfen.«  
    »Und die hat dich mit zwei Lanzen aufgespießt … Oder nein, sie hat dich natürlich mit einer doppelläufigen Flinte erschossen, die die Gesichter von Elvin und Adrian auf …«  
    »Nein, sie hat gar nichts gemacht. Sie war einfach nur traurig. Über die Zöpfe.«  
    »War sie hübsch?«  
    »Hab nur ihren Hinterkopf gesehen.«  
    »Warum hat sie die Zöpfe nicht aufgemacht?«  
    »Wüsste ich auch gern.«  
    »Du darfst anfangen.«  
    »130 PS , sticht.«  
    Keine drei Kartenpaare später bin ich mein Ansagen-Dürfen los, und Tobi beginnt mich auszuplündern. Eine Schrottkarte nach der anderen fliegt zu ihm über den Tisch. Die lässige Bewegung, mit der man dem Gegner, ohne ihn anzugucken, verlorene Karten vor den Latz wirft, beherrsche ich wie kein zweiter. Aber bitte. Wenn er es nötig hat, so offensichtlich zu betrügen. Da stehe ich drüber. Glaubt wohl, dass ich, nur weil er mir jedes Mal zwei, drei gute Karten unterjubelt, nicht merke, was hier läuft.  
    »250 km/h, sticht.«  
    »250.«  
    Das mit dem »sticht« sagen ist so albern. Warum wird das eigentlich nicht abgeschafft?  
    »Ou. Baujahr 1963?«  
    »Tja, 1949.«  
    Ha! Und als Nächstes die BMW . Jetzt rolle ich das Feld von hinten auf.  
    »Vielleicht war das Zopfmädchen ja jemand, den du kennst?«  
    »Hm? Ich kenne keine Mädchen mit Zöpfen.«  
    »Dann stand es vielleicht stellvertretend für irgendeinen Menschen, den du kennst?«  
    »Pah. Ausgerechnet du fängst mit diesem Esokram an. Du willst mich nur ablenken. 225 km/h.«  
    »220. Welche Zinssätze bietet die Bratislava Bank eigentlich für Festgeld?«  
    »Noch ein Wort davon, und ich gehe.«  
    ***  
    Gewonnen.  
    Ich habe gewonnen.  
    Ich. Habe. Gegen. Tobi. Ge. Wonnen.  
    »Ich weiß nicht, warum du so entgeistert guckst. Du bist ein guter Spieler, Oliver. Taktisch manchmal etwas wackelig, aber du hast den Raubtierinstinkt.«  
    »Ich … ich habe gewonnen.«  
    »Nun, nach geschätzt 120 verlorenen Partien war das wohl auch überfällig.«  
    Ich starre auf den Kartenstapel in meiner Hand. Was Tobi sagt, höre ich nur wie durch einen dicken Vorhang. Wie kann das sein? Was ist hier gerade passiert? Nein, er hat mich nicht mit Absicht gewinnen lassen. Er hat mit Zähnen und Klauen gekämpft. Bis zum Schluss. Ich habe trotzdem gewonnen. Ich fasse es nicht.  
    »Okay, Revanche.«  
    »Moment, Tobi.«  
    »Na gut, koste es nur aus. Wird sicher nicht so bald wieder passieren.«  
    Ja, nun ist wieder der Montagabend-Moment. Der Zeitpunkt, an dem ich auf einmal spüre, dass Elvin und Adrian mich nicht kleinkriegen und dass ich den Rest der Woche schaffen werde. Kein Zweifel. Meine Atemzüge werden tiefer und ruhiger und aus tausend kleinen Muskeln spaziert die Spannung heraus, winkt und macht Feierabend. Sogar der Hundeleinenmann von heute Morgen kriegt die ersten versöhnlichen Gedanken.  
    Ich kenne diesen Moment, ich habe ihn schon oft erlebt. Ohne ihn wäre ich schon längst in einer Klinik. Und ich kenne den Moment so gut, dass ich genau merke, dass es diesmal noch ein Stück anders ist. Mir kommt es tatsächlich vor, als würde ich plötzlich aus einem Meer auftauchen. Und als wäre ich so lange unter Wasser gewesen, dass ich schon ganz vergessen habe, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Und als würde ich zum ersten Mal seit langer, langer Zeit sehen, wie das Leben jenseits der Wasseroberfläche so ist.  
    Komisch nur, dass das Erste, woran ich nach dem Auftauchen denke, schon wieder das Mädchen mit den Zöpfen aus meinem Traum ist. Hat sie damit zu tun? Ich habe nur ihren Hinterkopf gesehen. Und sie war traurig. Über die Zöpfe. Woher wusste ich das? Und warum hat sie die Zöpfe nicht einfach aufgemacht? Ich konnte ihre Arme nicht sehen. Hatte sie keine Arme? Wer hat ihr überhaupt die blöden Zöpfe gemacht? Ich etwa? Wo kam sie her? Was in aller Welt hat sie in meinem Traum verloren, in einer Nacht, in der ich sonst nur Horrorfilme träume? Und vor allem, warum bekomme ich, je länger ich über das Mädchen nachdenke, ein umso schlechteres Gewissen? Ich habe ihr doch nichts getan.  
    »Können wir jetzt?«  
    Warum hat sie die Zöpfe nicht aufgemacht?  
    »Hallo?«  
    Der Traum holt mich ein. Mir ist, als ob ich ihn noch mal träume. Ich sehe Tobi, ich sehe die Karten in seiner Hand, ich sehe den Tisch, aber gleichzeitig läuft ein Film in mir ab. Ich sehe

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