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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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ansteuere. Nun werde ich um eine direkte Frage nicht herumkommen. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass ich damit die Wahrheit erfahre, aber ich werde zumindest eine Reaktion beobachten können. Heute Morgen habe ich mir diese Möglichkeit selbst genommen.
    Ich klopfe und trete in der gleichen Sekunde ein, um ihr keine Chance zu geben, etwas zu spielen oder zu planen. Doch ich blicke nicht in zwei, sondern in vier Augen. Jules und Maggie sitzen nebeneinander auf dem Bett und schauen mich an, als wäre ich der Beelzebub und wäre gekommen, um sie mit in mein schwefelstinkendes Reich zu nehmen. Jules hat den Arm um Maggies Schulter gelegt, seine Hand umgreift ihre Schulter. Sie sehen aus wie zwei Teenager, die gerade halbherzig beschlossen haben, miteinander zu gehen, aber eigentlich gar nicht genau wissen, wie man das anstellt.
    »Kann ich einen Moment alleine mit Maggie sprechen? Bitte?«
    »Ist das okay für dich?«, fragt Jules sie, ist aber schon aufgestanden, bevor sie nicken kann.
    »Ich tu ihr nichts, keine Bange«, sage ich ruhig. Jules sieht mich trotzdem mahnend an, bevor er sich hinter mir durch die Tür schiebt, um in Richtung Stube zu eilen. Offenbar habe ich ihn gerade gerettet.
    »Was ist?« Maggie weint nicht mehr, aber sie wird wieder damit anfangen, sobald ich ihr eine Gelegenheit dazu biete. Wortlos schließe ich die Tür, sonst tue ich nichts. Ich bin nur hier. Blicke sie an, unentwegt. Wie sie vor mir hockt und nach einigen angestrengten Atemzügen damit beginnt, sich an ihren Fingern zu kratzen, immer schneller und brutaler, bis sie aufspringt, die Bürste von der Fensterbank nimmt und damit über die geröteten Stellen fährt.
    »Maggie … nicht …« Sie versucht, die Bürste festzuhalten, doch ich bin um ein Vielfaches stärker, ein Ruck und ich habe sie. Ihre Finger bluten bereits. Neurodermitis. Sie hatte es immer nur an den Händen und in den Armbeugen, eine fast biblische Plage; der Juckreiz muss unerträglich sein. Es war stets der gleiche Zyklus: erst juckende Bläschen, dann kratzte sie alles auf, bis es wie Feuer brannte, anschließend musste es heilen. Und das als Geigerin. Nicht selten haben ihre Finger während des Spielens zu bluten begonnen, aber Maggie konnte das nicht abhalten.
    »Spätestens bei der Hochzeit ist es vorbei«, hatte ihr Vater sie zu trösten versucht, wenn es besonders schlimm war und ihre Finger aussahen wie die eines Schuppenmonsters. Er hat sich geirrt. Es ist wieder ausgebrochen. Jules kann sie davon nicht heilen.
    Ich gehe zum Fenster, mache es auf und forme zwei faustgroße Bälle aus dem Schnee, um sie Maggie zu reichen, eine in jede Hand. Kälte hilft, das weiß ich noch; manchmal hat es ihr genügt, die Finger unter eiskaltes Wasser zu halten, um den Juckreiz ein wenig zu dämmen. Mit tropfenden Fäusten sitzt sie vor mir und ist nicht in der Lage, etwas zu sagen.
    »Warst du es, Maggie?« Erschrocken blickt sie auf. Der Schnee in ihren Händen wird rosa von ihrem Blut, doch sie hält ihn eisern fest. »Hast du mir die Haare abgeschnitten?«
    »Was?«, flüstert sie. »Wieso – aber du … du hast doch … du hast es doch selbst getan, oder? Oder?«
    Ich setze mich zu ihr aufs Bett. Sie rückt so weit zurück, bis ihr Hinterkopf gegen die Wand stößt.
    »Nein, habe ich nicht. Jemand hat mir nachts die Haare abgeschnitten, als ich geschlafen habe. Schief und krumm. Ich musste sie so kurz schneiden, um sie zu retten, und ich denke, dass du es gewesen bist. Maggie, das ist nicht lustig, das ist kein Scherz mehr, ist dir das klar?«
    »Ich war es nicht!« Ihre Stimme überschlägt sich vor Anspannung. »So etwas würde ich niemals tun!«
    Ja, das hätte ich früher auch von ihr gesagt und jeden angegriffen, der das Gegenteil behauptet hätte. Aber jetzt kann ich das nicht mehr. Schon gar nicht, wenn sie so aufgelöst ist wie in diesem Moment. Irgendetwas macht sie fertig, und es kann nicht allein die Angst um Jules sein.
    »Dieser Wahnsinn hier muss aufhören, verstehst du? Es muss ein Ende haben. Ich nehme dir Jules nicht weg. Ich will ihn nicht! Krieg das in deinen Schädel rein, ja?«
    »Linna, ich war’s nicht, ehrlich. So was macht doch niemand, du hast es selbst getan, du verarschst mich, oder?«
    Ich schüttele nur den Kopf. So wird das nichts. Das hat keinen Sinn. Sie ist ja gar nicht mehr bei sich. Sobald ich weg bin, wird sie zu Jules rennen und ihm erzählen, was ich sie gefragt habe, und ihm gegenüber habe ich ja behauptet, ich habe es

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