Linna singt
tue oder nicht tue, könnte ein Fehler sein. Nein. Nein, keine Panik. Ich habe ihn in die Flucht getrieben, mit einem einzigen Faustschlag. Oder vielmehr zur Besinnung gebracht? Weiß er jetzt, dass er zu weit gegangen ist, und wird es nicht noch einmal versuchen?
Kann ich mir denn überhaupt sicher sein, dass es Jules war? Hätte es nicht jeder sein können? Sie alle haben getrunken und gefeiert. Aber solange ich mich nicht nach draußen traue, bleibt mir nichts übrig, als in meinem Zimmer zu bleiben, bis der Morgen kommt, und auf die zuverlässige Arbeit eines Hämatoms zu vertrauen. Es wird mir den Täter ohne Zweifel präsentieren und ich werde ihm in die Augen sehen können.
Starr vor Scham und Kälte lege ich mich zurück in mein Bett, die Decke bis ans Kinn gezogen, und warte hellwach und mit fest zusammengepressten Beinen auf den Morgen. Er war noch nie so fern wie in dieser Nacht.
ROCKY
Der Ton ist so voll und mächtig, dass er mich sofort weckt. Ich spüre seine Schallwellen überall auf meiner Haut, selbst die Wände der Hütte scheinen zu vibrieren. Kaum ist er verhallt, erklingt er ein zweites Mal – wie das Signal zu einer Hinrichtung, von der es kein Entrinnen gibt und die sich jeder Mensch, der diesen Ton wahrnimmt, anschauen soll, um auch glauben zu können, dass das Biest getötet wurde.
Jemand hat den Gong auf dem Dachboden geschlagen. Da, ein drittes Mal. Sie rufen mich.
Mit leisem Erstaunen stelle ich fest, dass ich gegen meinen Willen doch noch tief und fest eingeschlafen bin, nachdem die Schwärze vor meinem verschneiten Fenster langsam in ein stumpfes Grau übergegangen war. Das Tageslicht wirkte wie eine Beruhigungspille auf mich. Schließlich hatte ich mich der Müdigkeit hingegeben, darauf vertrauend, dass Jules es im Hellen nicht wagen würde, sich ein weiteres Mal an mich heranzupirschen, und mein Unterbewusstsein mich davon abhalten würde, zu tief zu schlafen. Verbarrikadieren konnte ich mich nicht, weil mir kein Möbelstück geeignet schien, die Klinke damit zu blockieren. Das Bett erwies sich als zu schwer, um es durch das Zimmer zu schieben.
Warum rufen sie mich? Wer hat den Gong geschlagen? Sie werden sich kaum mit mir zu einer gemeinsamen Yogastunde treffen wollen. Es muss etwas passiert sein.
Schon ertönen Schritte auf der Stiege und nähern sich meiner Tür. »Linna? Bist du wach?« Das ist Simon. Seine Stimme klingt eine Oktave tiefer als sonst, kratzig und belegt, seine Erkältung hat sich festgesetzt, doch ich erkenne sie sofort.
»Ich komme«, vermelde ich knapp und steige aus dem Bett, um in meine Klamotten zu schlüpfen.
Aus alter Gewohnheit suche ich nach einem Zopfgummi und will meine Haare zusammenbinden, bis ich ins Leere greife und kapiere, dass da nichts ist, was ich zusammenbinden kann. Na gut, das hat auch seine praktischen Seiten, denke ich grimmig und drücke mir jeweils einen kleinen Klumpen Schnee auf die Augen, um Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Die Schwellung an meiner Hand ist zurückgegangen, aber die Knöchel sind immer noch gerötet. Jetzt werde ich es ihm ansehen, denke ich, als ich die steile Stiege nach oben klettere, und es wird keinen Zweifel mehr daran geben, dass er es war. Jules hat mich sexuell belästigt. Denn nichts anderes war es, Alkohol hin oder her: sexuelle Belästigung.
Die Tür zum Dachboden steht bereits sperrangelweit offen. In dem weitläufigen Raum herrscht jenes Chaos, das Saufgelage nach sich ziehen; ein Glas ist in unzählige Scherben zerbrochen, die Nussschalen haben sich über den gesamten Boden verteilt, ebenso wie das Kartenspiel. Sogar der Flipchart ist gegen die Wand gekippt und bildet nun eine Art papierenes Zelt. Der Gong vibriert immer noch und erfüllt die Luft mit einem tiefen, sphärischen Summen. Die anderen stehen mit dem Rücken zu mir und für einen aberwitzigen Moment habe ich Angst, sie drehen sich um und ihre Gesichter sind zu abartigen, bösen Fratzen entstellt. Doch dann erblicke auch ich, was sie sehen.
»Oh«, entfährt es mir. Ohne jemanden zu berühren, schiebe ich mich zwischen Maggie und Simon. Maggie schnieft leise vor sich hin, die anderen schweigen. Wir haben eine neue Stufe erreicht und ich weiß plötzlich, dass das noch nicht das Ende ist. Es wird weitergehen, bis wir uns gegenseitig zerfleischen.
EINE(R) VON UNS WIRD RACHE ÜBEN.
Ja, der Satz zielt wieder auf mich ab – wem sonst würde man hier so etwas zutrauen? Natürlich soll er die Aufmerksamkeit auf mich
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