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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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richten, er ist eine gemeine, primitive Drohung, so präzise und sachlich sie auch formuliert wurde, denn ich bin es, die von den anderen bestraft wurde und Rachegelüste hegen könnte. Das wissen sie. Oder denken sie etwa wieder, ich habe die Buchstaben selbst an die Wand gepinselt, um ihnen Angst zu machen? Oh, die sollen sie gerne haben. Seit heute Nacht habe ich einen echten Grund, Rache zu üben. Doch in einer abstrusen Logik bestätigt mich die Botschaft in dem, was ich die ganze Zeit schon glaube. Dass ich das Racheopfer bin. Jemand will an mir Rache üben.
    Einer von ihnen hat diese Botschaft an die Wand geschrieben und mich weiter ins Aus getrieben. Ob die anderen denken, dass ich es selbst war oder diejenige bin, die Rache üben wird, macht dabei keinen Unterschied. Er hat sein Ziel erreicht: Ich stehe ganz am Rand. Wortlos drehe ich mich um und gehe hinunter in die Stube, wo der Tisch zur Hälfte gedeckt ist und das Wasser auf dem Herd verdampft, weil sie mitten beim Frühstückmachen alles stehen und liegen gelassen haben. Mit ruhigen Griffen, meine zitternden Finger ignorierend, vollende ich, was sie angefangen haben, setze mich an den Tisch und warte auf sie. Es dauert einige Minuten, bis sie mir nachkommen. Ich blicke fest zur Tür, um endlich den Beweis für das zu sehen, was ich heute Nacht getan habe – nein, was mit mir getan wurde.
    »Guten Morgen«, sage ich kühl, als Jules hereinkommt. Sofort schaue ich ihm ins Gesicht und spüre, wie etwas in mir stirbt, trotz der Erleichterung, dass Falk es nicht gewesen ist, und obwohl ich davon ausgegangen war, dass Jules es war. Es zu sehen, wiegt viel schwerer, und doch schreit alles in mir dagegen an, will wegsehen, es vergessen. Jules wird nie wieder mein Freund sein können. Nie wieder. Ich habe also doch das Jochbein getroffen. Sein rechtes Auge schillert in einem satten Blau und ist zu einem Schlitz geschwollen; er muss Schmerzen haben, aber sie sind nichts im Vergleich zu der galligen Enttäuschung, die meinen Magen verätzt. Ich muss meinen Blick wieder abwenden. Ich wollte ihm standhalten, aber ich habe Angst, mich dann zu vergessen und richtig zuzuschlagen. Nicht nur einmal, sondern so lange, bis er nicht mehr stehen kann.
    Guck Tobi an, Linna, ermuntere ich mich, Tobi ist neutral, bei Tobi … Ich stutze, schaue genauer hin, doch meine Augen trügen mich nicht. Bei ihm prangt der Bluterguss am Kinn. Auch seine Lippe hat gelitten, er muss sie sich durch den Schlag aufgebissen haben; es klebt getrocknetes Blut in seinem Mundwinkel. Überhaupt sieht er aus wie ein Untoter, kreidebleich und mit dunklen Schatten unter seinen geröteten Augen.
    Ich habe nur ein Mal zugeschlagen, das weiß ich genau, und es war auch nur eine Hand, die sich unter meine Pyjamahose geschoben hat. Nur ein Mann, der anschließend zur Tür gestolpert ist. Mit einer unguten Vorahnung im Bauch lasse ich meine Blicke weiterschweifen und nehme Falk ins Visier, der nicht minder gerädert aussieht als Tobi und Jules. Oh nein. Bitte nicht auch du … Doch ich irre mich nicht. Bei ihm hat es wie bei Jules das Auge erwischt, allerdings lediglich oben an der Braue, wo eine dunkelrote Schwellung mit einem feinen Riss prangt. Ja, dort, wo sich die Haut über die Knochen spannt, platzt sie schnell auf. Nur Simons Gesicht ist frei von Blessuren. Dafür hat er eine Nase wie ein Schneemann, dick und feuerrot.
    »Was ist denn mit euch passiert?«, frage ich müde und auf stupide Weise froh darüber, dass Jules nicht mehr der Hauptverdächtige ist. Das ist wie in einem schlechten Film, denke ich ratlos. Als gäbe es hier jemanden, der für jeden einzelnen Tag ein neues dramatisches Drehbuch schreibt. Scripted Reality. Es hat sogar eine gewisse Komik; wenn ich nicht diesen Spruch an der Wand hätte lesen müssen und die Hand nur an meiner Wade herumgekrabbelt wäre und nicht zwischen meinen Beinen, könnte ich sogar darüber lachen.
    »Hmpf«, macht Falk redefaul und gießt sich einen Kaffee ein, während Tobi und Jules in gequältem Schweigen verharren und weder den Kaffee noch den Toast anrühren, den ich eben noch in der Pfanne angeröstet habe.
    Das Dröhnen des Gongs hat ihrem Kater den Rest gegeben. Sie müssen hemmungslos über die Stränge geschlagen haben. Wahrscheinlich weiß derjenige, der zu mir ins Zimmer gekommen ist, gar nichts mehr davon.
    Sie haben sich offensichtlich geprügelt, wenigstens zwei von ihnen – oder sind sie gegen eine Wand gerannt? Die Treppe

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