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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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mit Falk darüber einigen, wie wir unseren Lauschangriff heute Abend angehen wollen. Obwohl es nicht zu der Misere passt, in der wir stecken, und ich gerade erst bei ihm war, wächst meine Vorfreude, ihn zu sehen, mit jedem Schritt, der mich zu ihm führt. Er hat gerade die letzte Portion Holz zerhackt und lehnt unter dem Dachvorsprung an der Wand, seine Seemannsaugen mit den kleinen, scharf abgezeichneten Pupillen ins graue Schneetreiben gerichtet. Es könnte eine Aufnahme aus einem Outdoorkatalog sein.
    Ja, dafür wäre er der passende Kandidat; die Natur steht ihm, ob in Australiens Dschungel oder in den deutschen Alpen. Sollten ihn die Haie eines Tages langweilen, kann er es ja damit versuchen. Dressman für Jack Wolfskin. Ein überzeugenderes Model können sie kaum bekommen – nicht niedlich und vielleicht auch nicht auf herkömmliche Art und Weise hübsch, aber kernig und mit einem Blick, der sofort das Fernweh in den Herzen der Menschen weckt, sodass sie sich bewogen fühlen, atmungsaktive Klamotten zu kaufen, die sie niemals brauchen werden.
    »Hey«, begrüße ich ihn kurz angebunden.
    »Hey, Mozzie. Alles okay mit Simon?« Alsokaymitsimon. Oh Falk, krieg doch mal deine Zähne auseinander, ich gewöhne mich viel zu sehr an deinen weichen Slang.
    »Er schläft. Wie machen wir das denn heute Nacht? Wir können ja schlecht gemeinsam die Stiege hochtrampeln, das würde jeder hören.«
    Ich frage nicht, ob es überhaupt noch Sinn hat, uns auf die Lauer zu legen – so viel deutet mittlerweile darauf hin, dass Jules die Botschaften geschrieben hat. Aber noch immer fühlt sich dieses Wissen im Herzen falsch an, ja, als hätte ich eine einfache Gleichung verkehrt ausgerechnet und jeder neue Rechenweg scheitert. Oder sind es beide zusammen – Maggie und Jules? Sind sie am Ende so etwas wie Bonnie und Clyde der Psychos? Ich sollte mir bis heute Nacht eine Denkpause gönnen, sonst bin ich hier oben der nächste Kandidat, der seinem Verstand hinterherrennt.
    »Ich werde hochschleichen, wenn alle anderen schlafen«, schlägt Falk vor und hält beide Hände vor den Mund, um sie zu wärmen. Ich mag sie, diese großen, kräftigen Taucher- und Holzfällerhände. Ich möchte meine Wange wie ein Kätzchen an ihren Knöcheln reiben. »Du kommst später nach. Sollen wir eine Uhrzeit ausmachen? Ein Uhr? Schaffst du es, so lange wach zu bleiben?«
    »Klar schaffe ich das. Ein Uhr auf dem Dachboden. Ich werde da sein.«
    Ich schmiege meine Wange nicht an seine Knöchel, obwohl sie sich immer noch in der passenden Höhe befinden. Ich lehne mich auch nicht an ihn, wie ich es für eine schwache Sekunde gerne tun würde. Ich drehe mich nur ohne einen Abschiedsgruß um und gehe zurück in die Hütte, wo ich mich aus meinen klammen Schuhen befreie, angezogen ins Bett lege und zu vergessen versuche, dass einer von uns erst dann zufrieden ist, wenn er mich vom Rand des Abgrunds gestoßen hat.

AMBER LIGHT
    Mitternacht. Noch eine Stunde. In der Hütte ist es längst ruhig geworden; das einzige Geräusch ist das beständige Flüstern und Fauchen der heißen Luft in den Ofenrohren. Ab und zu weht eine sanfte Böe Schneekristalle gegen mein Fenster.
    Wir haben das Abendessen wie betäubt eingenommen. Nudeln mit Tomatensoße und dem letzten Rest Butter. Ab morgen gibt es nur noch Margarine aufs Brot, bis auch die aufgebraucht ist.
    Simon blieb unter dem Vorwand seiner Erkältung in seinem Zimmer. Ich habe keine Ahnung, ob er Maggie gebeichtet hat, was geschehen ist. Sie selbst hat kein Wort dazu gesagt. Tobi sah wieder etwas besser aus und aß immerhin eine kleine Portion mit, verzog aber angeekelt den Mund, als Jules ihm wortlos ein Bier anbot. Ich konnte sehen, wie seine Hand zitterte. Maggie hatte aufgehört zu weinen und erinnerte mich in ihrer apathischen Starre an Mutter nach einer unserer Auseinandersetzungen. Doch bei Maggie war es echt. Sie ist mit ihren Nerven am Ende. Obwohl ich spürte, dass es ihr unangenehm war, habe ich ihr ins Gesicht gesehen, um zu überprüfen, ob sie meinem Blick standhält oder mir wie üblich ausweicht. Doch sie richtete ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf Jules. Immer wieder griff ihre linke Hand hilfsbedürftig nach Jules. Er ignorierte sie. Das Suchen ihrer Hand wirkte fast wie ein Reflex, eine Geste ohne jegliche Hoffnung, erhört zu werden, als habe sie eine solche Situation schon unzählige Male durchgestanden. Einem alten Ehepaar würde ich so etwas zutrauen – zwei Menschen, die schon so lange

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