Linna singt
diesem Gesamtkunstwerk einer Frau, aber sie ist keine herausragende Sängerin. Wie sagte Jules einmal? »Ich würde Sade vom Fleck weg heiraten und sie täglich anbeten, aber sie intoniert ihre Songs nur. Du singst sie.«
Nach und nach stellten wir fest, dass das Publikum unsere harten Nummern zwar mochte, aber nicht richtig dabei zuhörte. Die Leute fingen selbst an, zu tanzen und zu toben wie die Irren; wir waren fast nur noch Rhythmus und nicht mehr Melodie. Doch wenn wir uns die emotionaleren Songs herauspickten und zwischendurch darin Ruhe fanden, standen die Zuhörer oft still am Bühnenrand und starrten wie gebannt zu uns herauf. Wir wurden nie kitschig, das nicht, und ich glaube auch, dass das bei meiner Stimme und meiner Art, die Songs zu interpretieren, gar nicht möglich war. Aber unsere Sets wurden zunehmend melancholischer, gesetzter, reifer – erwachsener. Was natürlich auch daran lag, dass wir sie dem Zufall unserer persönlichen CD-Sammlungen überließen und die anderen nicht dazu neigten, harte Musik zu hören. Wenn etwas Hartes dabei war, kam es in der Regel von mir.
Nach Take the Power Back schalte ich den MP3-Player aus, um seinen Akku zu schonen, und schaue zum wiederholten Mal auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde. Bereit bin ich; ich habe vorhin meine Haare mit aufgewärmtem Wasser vom Herd gewaschen, was wesentlich stressfreier und schneller vonstattengeht als vorher, mich umgezogen und mir das Gesicht eingecremt. Ich brauche nur noch meine Schuhe. Als ich mich aufs Bett setze und in meine lädierten Boots schlüpfe, überfallen die Bilder von unseren letzten Auftritten meinen Kopf und besetzen ihn; eine verzögerte Folge meines Musikkonsums. Ich sehe Jules, wie er auf seine typisch lässige, unaufdringliche Art an den Drums sitzt, ich sehe Maggie mit konzentriertem Blick an den Keys, die unter ihren Händen zu einem magischen Instrument werden, ich sehe Falk den Hals seiner Gitarre wie Mike an seine Brust ziehen, während er ein Solo spielt, und ich sehe Simon … Oh, Simon. Er lacht. Nicht nur sein Gesicht besteht aus diesem strahlenden, gelösten Lachen, es hat seinen ganzen Körper erfasst, er ist die sprichwörtliche glückselige Heiterkeit, ein Mensch, den nichts erschüttern kann. Und jetzt? Was nur hat ihn so ernst und verkrampft werden lassen? Warum geht mir der Blick, mit dem er mich heute Nachmittag ansah, nicht aus dem Sinn?
Der Minutenzeiger hat die Zwölf erreicht. Ein Uhr. Ich muss da jetzt hoch, auch wenn ich mich fühle wie ein Schwerverbrecher auf der Flucht. Ich darf nicht mehr darüber nachgrübeln, was hier geschehen ist und was die anderen über mich denken, ich brauche alle meine Sinne, um wachsam zu sein und keine verdächtigen Geräusche zu verursachen, wenn ich nach oben schleiche. Doch ich habe nichts verlernt. Wenn sie schlief, gehörte das Haus für eine kleine Weile mir. Ich durfte weder fernsehen noch Musik machen, das hätte sie geweckt, aber ich konnte mich hinunter in die Küche schleichen, etwas zu essen aus dem Kühlschrank holen, mir eine Zeitschrift, ein Buch oder meinen Skizzenblock neben meinen Teller legen und für ein paar stille Stunden existieren, ohne dass mir daraus ein Vorwurf gemacht wurde. Hätte es diese heimlichen, lautlosen Momente nicht gegeben, wäre ich verrückt geworden.
So hört mich auch jetzt niemand, als ich wie ein Raubtier auf der Pirsch die Stiege nehme, ohne zu klopfen die Klinke herunterdrücke, mich in den Raum schiebe und die Tür hinter mir schließe. Es ist stockdunkel hier drinnen und auffällig warm. Falk muss den Ofen eingeheizt haben. Ich wage nicht, zu sprechen oder zu rufen, um mich bemerkbar zu machen. Stattdessen spüre ich, wie sich die feinen Härchen auf meinem Nacken und Armen langsam aufrichten. Gebannt lausche ich in die Schwärze vor mir. Müsste Luna nicht längst ihre feuchte Schnauze an meine Beine drücken? Ist Falk überhaupt hier? Ich wende meinen Kopf langsam nach links und trete einen Schritt zurück, um mich gegen die Wand lehnen zu können, denn das Kribbeln in meinem Rücken ist unerträglich geworden. Ich muss mich schützen. Da ist jemand. Ja, links neben mir steht jemand, ich höre seinen Atem, aber ist es Falk? Wenn es Falk wäre, müsste er etwas sagen, eine Begrüßung, wenigstens ein kurzes »Hey«. Warum sagt er nichts?
Wie eine Schlange, die zubeißt, greift aus dem Nichts heraus eine Hand nach meinem Arm und packt ihn. Ich zucke so stark zusammen, dass sich meine Nackenmuskeln
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