Linna singt
aber dieses habe ich mir angesehen und Ehrfurcht vor mir selbst bekommen. Ich konnte kaum fassen, dass ich das war, wie ich da stand und meinen Nacken nach rechts und links bog, um mich zu lockern, die Augen schmal vor Konzentration, keine einzige Regung von meinem Gesicht abzulesen, dazu das Spiel der Muskeln in meinen Armen, wenn ich in die Luft schlug und tänzelte, um mich warm zu halten, bevor die Tür aufging und ich der Kamera nachlief, die direkt auf mich gerichtet war. Ich sah ihr unentwegt in die Linse, ohne zu blinzeln, damit die Gegnerin mir über die Leinwand in die Pupillen schauen musste – sie konnte nicht anders, es wäre ihr als Schwäche ausgelegt worden, wenn sie es nicht getan hätte. Mein Blick hat sie vernichtet, bevor der Kampf begonnen hat. Sie konnte nicht gewinnen.
Ich habe fair gekämpft, keine Nieren- und Leberhaken, und ich habe auch versucht, nicht zu brutal auf den Kopf zu schlagen. Sie war eine ebenbürtige Gegnerin, technisch mir sogar überlegen, und nach zwei Runden hatte niemand mehr Zweifel daran, dass es uns ernst war. Ich hatte sie bis aufs Blut gereizt und sie vergeudete ihre Kraft mit viel zu ausladenden Schlägen und sinnlosem Gehopse. Ein paarmal ließ ich sie treffen, auch auf die Nase, denn der Schmerz setzt meine Energiereserven frei, er ist wie ein Verstärker. Dann hörte ich auf, mit ihr zu spielen, und bewies den glotzenden und grölenden Männern um uns herum, dass mit Frauenboxen nicht zu spaßen und Ästhetik etwas für Weicheier ist. Man konnte uns nicht vorwerfen, zu weit gegangen zu sein. Wir sollten demonstrieren, wie Frauenboxen aussieht, und das haben wir getan.
Zwei Wochen später gab meine Gegnerin ihren Rücktritt aus dem Profiboxen bekannt. Ich hingegen bin immer noch Amateurin. Ich habe keinen Bock auf das Punktewirrwarr in den Profiverbänden und dieses Hickhack um Gewichtsklassen und Listen und Wertungen. Es gibt unter den Amateuren ebenfalls gute, spannende Kämpfe, wenn auch mit Kopfschutz und strengeren Regeln. Einen Showkampf will Benno mir allerdings nicht mehr so schnell gestatten, obwohl das Publikum mich an diesem Abend geliebt hat. Ich habe das anerkennende Johlen der Zuschauer immer noch im Ohr, wenn ich daran zurückdenke, und auch die hypnotischen Rhythmen von More, meinem Titel zum Einlaufen, der mich den gesamten Kampf über begleitete und anspornte, obwohl er längst verklungen war.
Genau diese Musik brauche ich jetzt, um wach zu bleiben und mich für Falks und meine Nachtschicht zu wappnen. Ich ziehe mir zuerst More rein, dreimal hintereinander, während ich unruhig durch mein Zimmer tigere, dann This Corrosion, in der Maxiversion, anschließend Colours, mein Lieblingsstück von Sisters of Mercy. Es ist wie eine schwarze, mächtige Welle, sie nimmt einen mit und trägt einen, doch es gibt kaum Licht in diesem Song, nichts Heiteres und Helles, obwohl er sich auf seine eigene spröde Weise sanft und mystisch anfühlt. Die Aggression, die sich eben noch in mir aufgebaut hat, wird brüchig – ich darf jetzt nicht schlappmachen, also unterbreche ich Colours, verlasse Sisters of Mercy und klicke mich weiter zu Rage Against the Machine. Hart, klar, rebellisch.
Jetzt muss ich unweigerlich an die Anfänge von Linna singt denken, als wir glaubten, wir müssten so richtig derb abrocken, um in der Speyerer Szene wahrgenommen zu werden; schließlich waren wir die Band mit dem geringsten Durchschnittsalter. Bloß nichts zu Softes spielen. Damals stellten wir unsere Sets noch ohne Losverfahren zusammen, was fast immer Streit gab, denn rockige Songs brauchen selten einen Menschen am Keyboard und Maggie verlangte nach ihrer Daseinsberechtigung. Aber bei Rage Against the Machine konnte sie sporadisch mitmischen, weil wir nur einen Gitarristen hatten und sowieso niemanden gefunden hätten, der die Riffs wie im Original spielen konnte. Also wurden sie teilweise von Maggie an den Keys ersetzt. Bei unserem ersten Auftritt sang ich zum Auftakt Bombtrack, falls man das, was ich da tat, als Singen bezeichnen konnte. Ich liebte es, all meine Wut und meine Power in diesen Song zu legen. Ich hatte die Stimme dafür; mit meiner Range konnte ich tief und rau singen, sogar rappen und brüllen wie Sandra Nasic von den Guano Apes – ich stand ihr diesbezüglich in nichts nach -; doch ich kann genauso gut den hohen Part von Pictures in the Dark übernehmen. Oder aber ich sang soulig und jazzig wie Sade – na, ich tat es besser als sie, bei allem Respekt vor
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