Linna singt
verteilen, wie wir bräuchten, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Und wenn er nachts keine Gelegenheit findet, Unfrieden zu stiften, sucht er sie eben tagsüber. Es wird immer einen unbeobachteten Moment geben, in dem er sein Werk weiterführen kann.
Jules wage ich nicht anzugucken, aber als ich meinen Blick über Tobis ratloses Gesicht wandern lasse, fällt mir mit einem Mal ein, was er mir in der Sauna gestanden hat. Wenn ich seine Äußerungen richtig interpretiert habe, ist er bisexuell. Für ihn zähle nur, dass er jemanden möge, dann würde er ihm auch nahekommen wollen, wenn sich die Gelegenheit dazu böte. Ja, so ungefähr hat er es umschrieben. Ist etwa er mit der Botschaft gemeint? Schwul ist zwar etwas anderes als bisexuell, aber es gibt etliche Menschen, die diese Feinheiten nicht unterscheiden können und wollen. Oder aber – oder aber Jules hat mitbekommen, dass Tobi ein Auge auf mich geworfen hat, und will ihn als schwul outen, damit ich mich gar nicht erst darauf einlasse! Aber wieso schreibt er dann nicht »Tobi ist schwul« an die Wand? Warum immer diese verborgenen Wahrheiten – falls es denn Wahrheiten sind?
Geistesabwesend halte ich den Topf an beiden Henkeln fest und starre auf die Klammer, an der Simon verbissen herumschrubbt. Moment, die Klammer … Jede Botschaft hatte bisher diese penible Klammer, damit deutlich wird: Es können alle gemeint sein, Frau und Mann. Auch diese hier über der Spüle. Aber die ersten Worte der Botschaft oben auf dem Dachboden, die ich im Halbdämmer entziffert habe, hatten die auch eine Klammer? Sie hatte keine, oder? Ich schließe die Augen, um mich besser erinnern zu können, und sehe sie deutlich vor mir. Einer von uns. Ohne Klammer. Ist das ein Hinweis? War der Verfasser der Botschaft auf dem Dachboden ein anderer als der, der unsere Küche verunziert hat? Oder hat er die Klammer in seiner Verzweiflung nur vergessen?
Ich öffne meine Augen wieder, um erneut Tobias anzusehen, ich mache mir ein wenig Sorgen um ihn. Abgesehen von der Tatsache, dass Tag für Tag die Hütte seines Onkels verunstaltet wird und wir eingeschneit sind, ohne Hoffnung, allzu schnell wieder ins Tal zu gelangen, kann ihm nicht entgangen sein, dass der Täter ihn gemeint haben könnte. Er hat sich abseits von uns an den Tisch gesetzt und ist in ein dumpfes Brüten verfallen, sein Mund klein und traurig, und ich kann nicht anders, als zu ihm zu gehen und ihm durch seinen weichen Wuschelschopf zu fahren. Sofort lehnt er sich Schutz suchend an mich. Noch unterstellt mir keiner der anderen, auch diese Botschaft verfasst zu haben. Ob sie langsam begreifen, dass ich nicht die Schuldige bin? Oder haben sie es aufgegeben, mich anzuprangern, da ich in ihren Augen ja doch nichts zugebe? Immerhin scheint Tobi mich nicht im Verdacht zu haben, sonst hätte er mich längst von sich weggeschoben.
»Maggie hat recht. Das Gas ist leer. Auch die Ersatzflaschen. Alle leer.«
Falks Hiobsbotschaft reißt uns im Nu aus unseren Gedanken. Sogar Simon lässt von den Kacheln ab und dreht sich zu ihm um. Wie bitte? Das Gas ist leer? Hatte Falk die Zufuhr nicht lediglich abgedreht? Doch als ich ihm zweifelnd in die Augen schaue, nickt er, und gleichzeitig bedeutet mir sein Blick, dass er nicht derjenige ist, der dafür verantwortlich ist. Jemand anderes muss sich an den Gasflaschen zu schaffen gemacht haben.
»Oh nein«, stöhnt Maggie, mehr genervt als panisch. »Was machen wir denn jetzt? Wie sollen wir kochen und – und wir brauchen doch Licht!«
»Na, wir kochen wie früher, würde ich sagen«, schlage ich vor und deute auf den Kachelofen. Immerhin hat er eine Klappe, hinter der sich eine Nische befindet, in die man Töpfe stellen kann. Holz haben wir wieder genug, daran müssen wir nicht sparen. Trotzdem greife ich in die Küchenschublade und schiebe mir unauffällig ein Päckchen Streichhölzer in die hintere Hosentasche. Wäre ich der Psycho, wäre das nämlich eine meiner nächsten Taten: Feuerzeuge und Streichhölzer verstecken.
Falk hat bereits vorausschauend Petroleumlampen und Kerzen aus dem Anbau mitgebracht. Hätte dieser Morgen nicht so deprimierend begonnen wie all die vergangenen Tage auf dieser Hütte, müsste es für Tobi ein Freudenfest sein, nun nach Herzenslust seiner Illuminationskunst nachgehen zu können. Doch was unter anderen Umständen wildromantisch wäre, ein echtes Abenteuer, wird mehr und mehr zur Nervenprüfung für uns alle.
So nehmen wir das Frühstück in bedrücktem
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