Linna singt
Gutmenschenwünsche nach Gesundheit und Weltfrieden verboten wären, ja, wenn ich einen rein egoistischen Wunsch frei hätte, dann wäre es der, von Mike Oldfield für eine Aufführung von Tubular Bells III als Pianistin engagiert zu werden. Nicht nur das: Er müsste lächeln, wie er es bei der Uraufführung getan hat, während er und seine Musiker The Top of the Morning spielten und seine Percussionistin strahlte, als ginge die Sonne auf. Aber so ist es ja auch. Wenn Mike lächelt, geht die Sonne auf. Ich möchte diese Freude mit ihm teilen.
Wie immer, wenn ich meine Seele der Musik anvertraue, fallen meine Lider herab, als wäre ich mit einem Bann belegt worden, und ich ergebe mich der ewigen Magie der Harmonien und Akkorde, die ich spiele und die uns Menschen auf so wundersame Weise berühren und bewegen und heilen, ja, Musik kann heilen, sie hat es immer wieder getan. Ohne sie hätte ich meine Jugend nicht überlebt.
Schon nach wenigen Sekunden spüre ich, dass ich nicht mehr allein bin. Ich erkenne es an dem kühlen Luftzug in meinem Nacken, wie heute Nacht, und ich weiß, dass ich schutzlos bin, denn wenn ich spiele oder singe, sind meine Reaktionen verlangsamt, und ich bin nicht fähig, mich aus einem Stück zu lösen, bevor der letzte Ton verklungen ist.
Aber mein Herz verlangt nach meinem Spiel und verbietet mir, es zu unterbrechen, obwohl schräg hinter mir das Schlagzeug erklingt, sanft und diskret; es will mich nicht stören, nur begleiten. Genau das war es, was Jules von anderen Drummern unterschied. Seine Sensibilität und die Fähigkeit, sich zurückzunehmen, anstatt sich brachial in den Mittelpunkt zu trommeln. Nie war er zu laut und zu gewaltig. Auch jetzt weiß er genau, was zu viel wäre, sein Fuß liegt auf dem Pedal der Basedrum, ohne es zu betätigen, er belässt es bei der Snare und dem kleinen Becken, ganz zart, beinahe fragend.
Ich kann nicht aufstehen und fliehen. Ja, ich habe Angst vor diesem Mann hinter mir, Angst vor seinen Wünschen und Gedanken, die ich nicht kenne und die so viel Schrecken verbreitet haben, aber ich kann ihm die Musik nicht nehmen, er braucht sie ebenso wie ich. Wir brauchen sie, um gesund zu werden.
Doch irgendwann geht jede Melodie zu Ende, um uns allein zurückzulassen, und so ist es auch bei diesem Stück. Meine Hände ruhen auf den Tasten, auch meine Augen bleiben geschlossen. Sag nichts, Jules, bitte, zerstöre diesen Moment nicht. Lass mir die Illusion, dass Frieden zwischen uns herrscht.
Zitternd atme ich aus und drehe mich zu ihm um, bevor ich aufspringe und die Treppe hinunterjage, doch dieser kurze Blick genügte, um sie zu sehen, eine einzelne glitzernde Träne an seinem Kinn. Stumm wie seine damaligen Tränen ist sie geflossen, nur eine Träne, doch in seinen Augen lese ich, dass sie lediglich eine Botschafterin für das Meer an Trauer war, das ihn zu sich zu nehmen drohte – oder in dem er schon lange ertrunken ist, bevor ich ihn kennenlernte.
Wie sollte ich Jules misstrauen können? Wie ihm trauen? Bei Falk quälen mich diese Fragen nicht mehr, ich habe mich entschieden und heute Morgen habe ich es zum ersten Mal bereut, denn er hat mit zweierlei Maß gemessen. Aber wenn ich Jules traue, riskiere ich möglicherweise mein Leben und das meiner Freunde dazu.
Falk hatte recht, ich muss schlafen. Ich bin vollkommen übermüdet, nicht mehr fähig, meine Taten zu beurteilen. Was habe ich mir dabei gedacht, Musik zu machen? Es hätte nur noch gefehlt, dass ich versucht hätte zu singen! Wie gut, dass meine Hände sich für ein Stück ohne Gesang entschieden haben; dümmer wäre nur gewesen, erneut eine Lawine herauszufordern, und selbst das kommt mir hoffnungsvoller vor. Ich fange am gesamten Oberkörper zu frösteln an, als ich an Falks Satz von heute Nacht denken muss. Verzweifelte Menschen sind zu den schrecklichsten Dingen fähig.
Maggie hat Grund zur Verzweiflung, und wenn ich Falk Glauben schenken kann, bin ich einer davon, aber vor allem ist es ihr eigener Ehemann. Was macht ihn selbst so verzweifelt? Der Tod seiner kleinen Schwester? Ist es das, was ihn innerlich auffrisst? Aber warum muss er es dann an anderen auslassen – und wenn es so wäre, hätte er das nicht schon viel früher getan? Auch Simon ist verzweifelt, weil er sein eigenes Kind nicht sehen kann. Der Einzige von uns, der nicht verzweifelt ist, ist Falk und für einen Moment bin ich drauf und dran, zum Axtplatz zu rennen, mich in seine Arme zu werfen und ihn anzubetteln, mich von
Weitere Kostenlose Bücher