Linna singt
Schweigen ein. Noch immer schaffe ich es nicht, Jules anzusehen, als könne er in meinen Augen erkennen, dass Falk und ich ihm heute Nacht ganz nah gewesen sind und gehört haben, wie er weinte.
Was fangen wir nur an mit diesem neuen Tag im Schnee? Proben ist ausgeschlossen. Wir werden Holz machen müssen, aber das wird nicht mehr als ein, zwei Stunden in Anspruch nehmen. Und dann? Was dann? Wie schlagen wir unsere Zeit tot?
»Du solltest dich ausschlafen«, raunt Falk mir zu, als ich die Teller und Tassen in die Spüle stelle. Ja, da hat er wohl recht, das sollte ich tun, aber nachdem Maggie mit den Worten, Wäsche zu machen, in die Badestube verschwunden ist, Simon sich wieder auf sein Zimmer zurückgezogen hat und Falk und Tobi auf dem Weg zum Holzstapel sind, empfinde ich weder Bettschwere noch den Wunsch, meine Augen zu schließen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so viele Tage hintereinander weder Sport gemacht habe noch kreativ tätig war. Beides fehlt mir, ja sogar das Elfenmalen. Manchmal kann es äußerst beruhigend sein, mit einem feinen, gut angefeuchteten Pinsel rosa Farbe aufzutragen und kleine, freche Gesichtchen zu skizzieren, Illustrationen zu Geschichten, in denen das Gute stets das Böse besiegt, Einhörner durch die Wälder preschen und Probleme mit einem kessen Zauberspruch aus der Welt geschafft werden. Oh, und ich würde dafür bezahlen, meine Laufschuhe anziehen und joggen gehen zu können. Aber hier? Alles, was wir an begehbarer Strecke zur Verfügung haben, sind die geschätzten zwanzig Meter zum Anbau und zurück. Unser Gefängnis ist der Schnee, bewacht von den dunklen, tief hängenden Wolken. Die Sonne hat uns vergessen.
Zum Seilspringen ist mein Zimmer zu niedrig – aber vielleicht klappt es auf dem Dachboden. Ich gehe in mein Zimmer, krame das Springseil aus meinem Rucksack und kraxele die Stiege hinauf. Nein, das ist aussichtslos, ich muss es gar nicht erst testen. Das Seil wird gegen die Dachbalken schlagen. Hier oben kann man nur Yoga oder Liebe praktizieren. Ersteres ist mir zu langweilig, für das Zweite fehlt mir der entsprechende Partner. Mein Wunschkandidat hat es sich gerade erst vermasselt.
Meine Aufmerksamkeit richtet sich wie von selbst auf das Klavier. Es ist aufgeklappt und ich kann meine Augen nicht von den Tasten losreißen, denn auch dieser Anblick ist wie ein Beruhigungsmittel für mich: eine perfekte symmetrische Anordnung aus Schwarz und Weiß. Wie kühl und seidig das Elfenbein sich unter meinen Finger anfühlen würde … Ich habe immer dann aufgehört zu üben, wenn die Tasten warm und feucht wurden. Am besten spiele ich, wenn sie kalt sind. Aber dieses Klavier ist sicherlich so verstimmt, dass es mir den Magen umdrehen würde, darauf Musik zu machen. Es reicht, eine Oktave anzuschlagen, um das zu wissen, ach, es reicht, den Kammerton anzuschlagen. Ich muss es nur tun, um die Bestätigung dafür zu finden, dass meine Idee unsinnig ist, es genügt eine einzige Taste.
Nanu. Das ist ein A. Ein reines, klares A. Vorsichtig spiele ich die Oktave dazu. Hm. Nicht exakt, aber reiner, als ich angenommen habe. Mit einem schwachen Lächeln denke ich daran zurück, wie ich Mutter mein gesamtes Taschengeld und den Inhalt meines Sparschweins auf den Tisch gelegt und sie inständig darum gebeten habe, einen Klavierstimmer kommen zu lassen, weil ich die Misstöne unseres Flügels nicht mehr ertragen konnte. Für Mutter ist er eher ein Dekogegenstand als ein Instrument, aber ich hatte gerade angefangen, mir das Klavierspielen beizubringen, und meine Ohren litten unter den falschen Harmonien. Als der Klavierstimmer endlich kam und in stundenlanger Kleinarbeit an den Saiten herumschraubte, schaute ich ihm aufmerksam zu, um so viel wie möglich dabei zu lernen, doch es ist eine Wissenschaft für sich, eine Kunst. Es ist wie Musik und Physik in einem und von Physik habe ich bekanntlich keine Ahnung.
Ich könnte mir jetzt die Zeit vertreiben, indem ich versuche, dieses Klavier zu stimmen, oder aber ich denke mir die falschen Töne richtig und erfreue mich an … Meine Hände warten nicht ab, bis mein Kopf seinen Entschluss gefasst hat, und sie fragen mich auch nicht, was sie spielen sollen, sie wissen es bereits. Das, was ich immer spielte, wenn ich aufgewühlt war und mich selbst ein wenig vergessen wollte. Denn bei diesen Tonfolgen sind kein Argwohn, kein Misstrauen, keine Trauer mehr möglich.
Oh, wenn ich einen Wunsch frei hätte, nur einen, und diese
Weitere Kostenlose Bücher