Linna singt
damals. Wir haben unseren Zauber verspielt.
»Hast du die Botschaft auf dem Dachboden weggewischt?«, frage ich, nachdem ich mir einigermaßen sicher bin, normal sprechen und mich zu ihm umdrehen zu können, ohne dass er meinem Gesicht ansieht, wie hart diese Diskussion für mich war.
»Sie war bereits weggewischt. Wies scheint, ist Jules seinen eigenen Taten nicht mehr gewachsen.«
Jules. Falk ist sich so sicher, dass es Jules ist. Meine Logik lässt ebenfalls keine andere Schlussfolgerung zu, aber fühlen kann ich dieses Wissen nicht. Doch wie sollte ich das auch? Falk hat heute Nacht gesagt, dass mir dazu einer der fünf menschlichen Sinne fehlt, und sogar sein eigener Geruch, der mich so glücklich machte, kommt mir heute Morgen vor wie eine längst verblasste Erinnerung. Wir haben unser Ziel also erreicht. Keine neue Botschaft, keine neuen Psychospiele. Ist es jetzt vorbei? Ohne dass wir erfahren, wer dahintersteckt?
»Dann lass uns frühstücken. Ich habe Kaffeedurst.«
Eigentlich habe ich weder Durst noch Hunger, doch wenn ich Falk zeige, wie elend mir ist, wird das sein Vertrauen auch nicht wieder zum Leben erwecken. Ich lasse ihn allein, damit er sich in Ruhe anziehen kann, und fühle mich leer und tot, als ich in meinen Spiegel blicke und mit schneefeuchten Händen meine Haare in Form bringe. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, und erst recht nicht, wer ich sein will. Mein Herz schlägt auch, wenn ich keine Angst habe. Es schlägt immer.
Auf dem Flur stoßen wir beinahe zusammen, Falk will gerade klopfen, als ich die Tür öffne, und so hängt seine erhobene Hand einen Moment lang neben meiner Wange. Doch er berührt sie nicht, sondern lässt sie sinken, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen, und geht mir voraus in die Stube.
Die anderen sind bereits wach und stehen wie eine stumme Mahnwache vor der Küchenzeile. Nur Tobi dreht sich um, als wir eintreten, und ich sehe ihm sofort an, dass wir uns zu früh gefreut haben. Es ist wieder etwas geschehen. Natürlich – wie konnten wir so naiv sein und glauben, er würde es ausschließlich auf dem Dachboden tun? Es gibt viele Wände in dieser Hütte und nun hat er unsere Stube mit seinen Schmierereien besudelt. Der Schriftzug prangt direkt über der Spüle auf den weißen Kacheln, gut sichtbar für jeden, der diesen Raum betritt, ob vom Flur oder der Haustür aus. Man kann gar nicht anders, als ihn zu lesen.
EINE(R) VON UNS IST HOMOSEXUELL.
Ich kann ein belustigtes Auflachen nicht verhindern, obwohl ich weiß, wie unpassend es ist, aber nach der Botschaft von gestern kommt mir diese beinahe harmlos vor. Für mich ist sie die harmloseste aller bisherigen Botschaften, denn sie meint nicht mich. Dass ich nicht homosexuell bin, ist wohl allseits bekannt, schließlich werde ich von Maggie seit meiner Ankunft in Neulußheim ununterbrochen als männermordende Venusfalle hingestellt.
Doch die Botschaft macht überhaupt keinen Sinn. Was würde es Jules auch nützen, einen von uns als schwul zu bezeichnen? Was sollte das bezwecken? Ich begreife es immer weniger. Alle anderen Botschaften zielten auf mich ab, aber diese hier? Nein. Das muss auch den anderen bewusst sein.
Da Maggie, Jules und Simon mit dem Rücken zu mir stehen und Falk hinter mir, weiß ich noch viel weniger als sonst, was in ihnen vor sich geht. Simon ist der Erste, der reagiert. Er nimmt den Küchenschwamm, drückt ihn aus und beginnt, die Botschaft mit seiner gesunden Hand wegzuwischen; ordentlich, wie er ist, fängt er mit dem ersten Buchstaben an und arbeitet sich sorgfältig vor. Wir schauen ihm dabei zu, als hinge unser Leben von dieser Putzaktion ab. Maggie ist apathisch, aber sie weint nicht.
Simons Aktionismus wirkt ansteckend auf mich. Ich quetsche mich zwischen Maggie und Jules hindurch zur Spüle und ziehe einen großen Topf vom Herd, um Schnee zu holen und Wasser aufzustellen.
»Das kannst du vergessen«, sagt Maggie kraftlos. »Das Gas ist alle. Wir können den Herd nicht mehr benutzen.«
Ich werfe Falk einen fragenden Blick zu. Hat er den Gashahn nicht wieder aufgedreht? Sofort macht er sich auf den Weg zum Anbau, während wir nichts anderes zu tun haben, als Simon beim Entfernen der Schmiererei zuzusehen. Der Spruch ist eine Bagatelle, heute schert sich doch niemand mehr darum, welcher sexuellen Spielart man sich zugewandt fühlt, doch die Tat ist raffiniert. Wir hielten oben Wache, also schlug der Täter in der Küche zu. Wir können gar nicht so viele Wachtposten
Weitere Kostenlose Bücher