Linna singt
und versuche, ihm dabei in die Augen zu sehen, doch er lässt mich nicht. »Dich. Sie haben dich, Jules. Sie brauchen dich. Sie lieben dich! Du kannst nicht ihre Geschichte umschreiben. Nicht, wenn du dich dabei unglücklich machst.«
»Ich habe sie belogen. Ich habe ihnen Hoffnung geschenkt.« Jules schluchzt auf und wischt sich mit der schmutzigen Hand über die Nase, das gleiche Geräusch wie auf dem Dachboden. Doch jetzt weckt es nur noch tiefes, ehrliches Mitgefühl in mir. »Ich kann sie ihnen nicht wieder nehmen. Das kann ich ihnen nicht antun.«
»Du musst. Jules, bitte …« Jetzt nehme ich doch seine Hände und küsse sie, obwohl sie vor Dreck strotzen. »Sag wenigstens Maggie die Wahrheit oder uns, deinen Freunden, niemand wird dich verurteilen. Du musst es nicht deinen Eltern sagen, aber Maggie ist deine Frau, sie hat geschworen, dir auch in schlechten Zeiten zur Seite zu stehen. Das ist mehr, als ich wahrscheinlich jemals fertigbringen werde. Sie hat es verdient! Doch vor allem musst du es für dich tun, bitte. Bitte.«
Er schüttelt erneut den Kopf, das ewige Nein, das ihn schon so lange gefangen hält. »Ich weiß, für dich klingt das alles ganz einfach. Man outet sich, großes Hallo, und das Leben ist wieder schön. Doch so ist es nicht! Wenn ich das tue, wird alles, was ich bisher gemocht oder nicht gemocht habe, jede meiner Handlungen und auch das, was ich in der Zukunft anstelle, daran gemessen. Was früher vielleicht außergewöhnlich oder stylish oder cool war, ist jetzt schwul. Nur noch schwul. Wenn ich Sade höre, ist es schwul, wenn ich teure Aftershaves benutze, ist es schwul, wenn ich einen Sinn für Mode und Design habe, ist es schwul …«
»Vor allem dein Job, Jules. Der ist echt megaschwul.« Ich stoße sanft meine Faust gegen sein Knie. Sein Mund verzieht sich zu einer kurzen Grimasse; sein Kopf versteht den Witz, seine Seele aber ist noch nicht fähig, darauf zu reagieren. »Damenbinden verkaufen. Geh in die Produktentwicklung, die Frauen werden dich lieben und dir ihre intimsten Geheimnisse anvertrauen.«
Doch ich weiß, was er meint. Es ist nicht anders als bei mir. Auch meine Taten und Worte wurden und werden an dem gemessen, was man über mich dachte und zu wissen glaubte. Aber Falk hat am eigenen Leib erfahren, dass ich anders bin. Maggie wird es möglicherweise auch irgendwann verstehen. Vor allem aber weiß ich es. Nur das zählt.
»Ich hab jahrelang gelogen, Linna. Ich habe euch alle angelogen, meine Familie, die Mädels, die hinter mir her waren, meine Freunde. Jeden.«
»Ach, Jules, mach dir wegen der Mädels keine Sorgen. Das ist doch kein Geheimnis: Die Besten sind immer schwul oder vergeben.«
»Merkst du was?«, entgegnet er aufgebracht. »Wieder so ein dummer Spruch. Ich fühle mich nicht mal schwul, jedenfalls nicht so schwul, wie man sein sollte! Ich guck immer noch gerne Fußball und trinke lieber Bier als Prosecco, ich würde jederzeit mit Falk angeln gehen, und das nicht nur wegen Falk, und ich finde Sex and the City todlangweilig. Ich schlafe ein, wenn Maggie es guckt. Außerdem – ich war in Schwulenforen unterwegs, weil ich wissen wollte, wie das ist, wenn man dazugehört, und was ich da erfahren habe, ist … ich kann es gar nicht beschreiben! Wusstest du, dass es ein Buch gibt, in dem alle Orte aufgelistet sind, an denen sich Schwule treffen, um Sex zu haben? Fremde, meine ich. Auf Parkplätzen, an Seen, hinter Autobahnraststätten. Ich will nicht dazugehören! Das ist nicht meine Welt!«
»Jetzt mach doch mal langsam. Du bist zu perfektionistisch. Du verlierst dich ja selbst schon in Vorurteilen, merkst du das nicht? Ja, vielleicht gibt’s das, aber es gibt bestimmt auch andere Schwule. Sei einfach … sei Jules! Du warst es doch die ganze Zeit. – He, ganz ruhig!« Ich habe das Klopfen an der Tür auch gehört, es muss Falk sein. Er macht sich Sorgen. Jules hat sich vor Schreck auf die Lippe gebissen, sie blutet sogar.
»Alles okay bei euch?«, ruft Falk fragend.
»Ja, alles gut, wir reden nur«, gebe ich leutselig zurück und warte, bis seine Schritte sich entfernen. Ob er schon länger vor der Tür stand und mitgehört hat? Weiß er nun, dass Jules ihn liebt? Wenn schon, Falk kann mit so etwas umgehen. Trotzdem glaube ich, dass es Jules war, der ihn in der Sauna so intensiv angeschaut und damit in die Flucht getrieben hat. Ich kann es Jules nicht vorwerfen, mir wäre es kaum anders ergangen. Das Tattoo auf Falks Hüfte hat eine magische
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