Linna singt
Anziehungskraft und Falk wird gespürt haben, dass es mehr als nur ein neugieriges Betrachten war. Es war ein begehrliches Schauen. Wie damals im Zimmer des Hausmeisters. Sein Flashback war nicht ganz unberechtigt.
»Wir werden übrigens morgen abgeholt«, teile ich Jules mit, was ich beinahe wieder vergessen hätte vor lauter Diskutieren. »Von der Bergwacht. Jules, ruh dich erst mal aus, okay? Wir können nachher gerne weiterreden. Den Strick nehme ich mit und du verlässt bitte dieses stinkende Dreckloch.« Doch als ich den Strick zusammenrolle, fällt mir plötzlich wieder ein, was ich Jules längst hätte fragen müssen. »Jules, die Botschaften an der Wand – wenn du das nicht warst, wer war es dann? Warst du es wirklich nicht?«
»Ich wollte nur die eine schreiben. Dass einer von uns schwul ist. Ich habe gedacht, dass Maggie oder Falk es vielleicht gespürt haben und mir dann die Pistole auf die Brust setzen und alles rauskommt, weil das wieder so ein Moment war, in dem ich das Gefühl hatte, ich halte es nicht aus … Wo ich doch dauernd Falk ansehen muss. Aber dann habe ich wie immer gekniffen und bin ins Bett gegangen. Am nächsten Morgen stand es dann an der Wand in der Küche. Zwar mit homosexuell statt schwul, aber der Inhalt war ungefähr derselbe. Ich dachte, ich drehe durch. Ich hab einen Moment lang sogar überlegt, ob ich es selber war und einen geistigen Totalausfall hatte.«
»Ja, das dachte ich in den vergangenen Tagen auch öfter.« Armer Jules. Er muss ähnlich am Rad gedreht haben wie ich. Abgesehen davon finde ich nun keinen einzigen Grund mehr, weshalb er mir die Haare abschneiden wollte. Er kann es nicht gewesen sein. Doch warum ist er bei dem Spiel so ausgerastet?
»Nur eine Frage noch, dann lasse ich dich in Frieden. Als ich … ähm. Unser Spiel. Warum hast du aggressiv auf mich reagiert? Was ging dir durch deinen homosexuellen Kopf? Findest du Frauen so abstoßend?« Ich stehe auf und klopfe mir den Dreck von den Hosen. Jules bleibt sitzen, doch als ich zu ihm hinuntersehe, erkenne ich aufrichtige Reue in seinen Augen. Grün sind sie, denke ich und bin einen Moment lang wie verzaubert. Sie sind grün. Und sie sind wunderschön. Selbst in dem Halbdämmer, der uns umgibt, schimmern sie wie die ausgewaschenen Glassteine, die ich früher immer aus dem Rheinkies am Ufer geklaubt und gesammelt habe, weil ich sie so gerne ansah.
»Ich wusste, dass du Falk zu spüren glaubst. Ich kenne dich doch, Linna. Und gleichzeitig hat es mich an Maggie erinnert. Wie sie ist, wenn sie versucht, mich zu verführen. Ich … oh Gott, du glaubst nicht, wie furchtbar das für mich ist.« Er seufzt und schlägt seine Wimpern nieder, bevor er erneut zu mir aufsieht. »Sie wird mich hassen. Ich mag sie, ich mag sie ehrlich, das musst du mir glauben, ich hab sie schon immer gemocht. Aber sie ist die größte Lüge in meinem Leben, die allergrößte. Ich … ich … versprichst du, dass du ihr nicht sagst, was ich dir jetzt erzähle?«
»Ich verspreche es.« Ich werde ihr so einiges nicht erzählen von dem, was ich eben erfahren habe. Dieses Versprechen wird mir nicht schwerfallen.
»Eigentlich fühlte ich mich immer dir näher. Dir, nicht Maggie. Mit dir hätte ich es besser ausgehalten. Aber wenn ich dich eines Tages verlassen hätte, weil ich es nicht mehr ertragen hätte, dann hätte es niemand verstanden. So eine schöne Frau verlässt man nicht. Bei so einer schönen Frau wird man nicht schwul. Aber …«
»Nein. Rede nicht weiter. Sie ist meine Freundin. Sag es nicht. Ich verstehe dich, aber sprich es nicht aus. Okay? Die Beichtstunde ist beendet.« Jules kann das nicht sehen, aber Maggie ist auf ihre Weise sehr wohl attraktiv und sie wird immer eine bessere Ehefrau als ich sein. Sie hat Liebreiz und Wärme und das wird sie auch mit sechzig noch ausstrahlen. Außerdem wird sie mit dem Alter schöner werden. Sie gehört zu den Frauen, denen mit vierzig plötzlich alle Männer hinterherstarren. Ich hingegen verschrumpele wahrscheinlich mit Mitte fünfzig über Nacht wie ein schlecht gelagerter Bioapfel. Dann ähnle ich den alten Tibeterinnen in meinem Himalaja-Bildband, Gesichter wie Landkarten. »Wir sind noch jung, Jules. Erlöse sie jetzt. Nicht erst in zwanzig Jahren, wenn du durchbrennst, weil du nicht mehr anders kannst. Bleib anständig.«
Ich lasse ein paar Sekunden verstreichen, doch Jules erwidert nichts. Kein »Bitte sag ihr nichts« oder »Du darfst mich nicht verraten«. Will er sein
Weitere Kostenlose Bücher