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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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darüber nachgedacht, hat er gesagt. Mit dem Gedanken gespielt … Die Botschaft hat ihn auf eine Idee gebracht, die schon öfter für Unruhe in ihm gesorgt haben muss. Was ist schwieriger: zu sterben oder zu leben?
    Kauend schiele ich auf das schmutzige Seil neben mir. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich das Leben zu nehmen. Er hätte auch eine seiner Rasierklingen benutzen können. Oh, er kann es immer noch! Aber ich klammere mich an den Gedanken, dass er entdeckt werden wollte. Er hat darauf gehofft, insgeheim. Ich muss mir das einreden, sonst rücke ich ihm bis zu unserer Abreise nicht mehr von der Pelle, ach, ich kann ihn dann niemals mehr einen einzigen unbeaufsichtigten Schritt gehen lassen, denn schwul bleibt er ja. Das Problem seines wahren Coming-out ist durch unsere Heimfahrt nicht gelöst; eigentlich fängt es dann erst richtig an.
    Hoffentlich denkt er nicht ernsthaft darüber nach, in sein altes Leben zurückzukehren und sich weiterhin zu verleugnen. Das würde ihm das Genick brechen. Dann würde der Psycho aus ihm werden, den Falk und ich hier schon in ihm gesehen haben. Ich bin drauf und dran, aufzustehen und nach ihm zu schauen, als mir einfällt, was er über Mina gesagt hat und was ich erwidert habe. Er ist das einzige Kind seiner Eltern. Nein, er wird sich nichts antun. Wenn er schon glaubt, ihnen ihre Hoffnungen zu nehmen, wird er ihnen nicht auch noch ihr einziges Kind nehmen. Nicht nach dem, was mit Mina passiert ist. Er wird durchhalten.
    Es fällt mir immer schwerer zu kauen, obwohl ich trotz des Schreckens und der Angst, die ich in den vergangenen Stunden durchstehen musste, einen Bärenhunger habe. Die Ereignisse der Nacht und des Morgens haben mich Kraft gekostet. Gähnend beiße ich ein weiteres Stück ab und lege meinen Kopf auf den rechten Arm, um für einen Moment die Augen zu schließen. So simpel kann das Paradies sein, denke ich träumerisch. Ein warmer Ofen, ein Stück Brot, süßer Honig und das Privileg, die Augen schließen zu dürfen … nur für fünf Minuten … oder vielleicht auch zehn … länger nicht …
    »He, Linna.«
    Nur langsam tauche ich aus der milden, weichen Schwärze auf, in der ich mich geborgen wie ein Baby in Mamas Bauch gefühlt habe, und merke sofort, dass ich immer noch einen süßen Klumpen Honigbrot im Mund habe. Ich muss ihn erst runterschlucken, um antworten zu können, und selbst dann ist meine Zunge noch zu träge dafür.
    »Was ist jetzt eigentlich mit Tobi? Was machen wir?«
    Falk streicht mir fest über Rücken und Nacken, um den Schlaf aus meinem Körper zu vertreiben. Meine Wirbelsäule knackt, als ich mich aufrichte und so herzhaft gähne, dass meine Gesichtsmuskeln schmerzen.
    »Eingeschlafen. Wie spät?« Ich halte mich nur wenige Sekunden in der Aufrechten, dann sinkt mein Kopf wie von selbst gegen Falks Schulter. Müde. Immer noch sehr, sehr müde.
    »Kurz vor fünf.«
    »Was? So spät schon?« Ich springe zu schnell auf, sodass sich sofort tanzende Kreise vor meinem Sichtfeld bilden. Mein Kreislauf ist noch im Ruhemodus. »Wo ist Jules, geht’s ihm gut?«
    »Hab eben nach ihm geschaut. Er schläft. – Keine Bange, Mozzie, ich hab seinen Atem überprüft, er schläft tief und fest. Und er sieht beschissen aus, wenn du mich fragst.«
    Ich möchte nicht wissen, wie ich aussehe. An dem leichten Brennen auf meiner Wange erkenne ich, dass Schlafnarben mein Gesicht zeichnen, aber das wird der geringste Makel sein. Außerdem müsste ich dringend pinkeln, doch ich kann jetzt nicht nach draußen in die Kälte gehen, das schaffe ich nicht.
    »Falk, wegen Tobi. Könntest du vielleicht zu …«
    »Linna?« Maggies Stimme lässt mich mitten im Satz abbrechen, so gläsern hallt sie durch die Stube. Da ist kein Bitten und Flehen in ihrem Gesicht mehr, auch keine Panik, nur eine unendlich tiefe Erschöpfung. »Können wir mal kurz reden?«
    »Ich … äh …« Mit dem Knie stoße ich gegen Falks Bein. Bitte mach du das. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, beende ich mein Gestotter, als Falk sich nicht bemüßigt fühlt, mir beizuspringen.
    »Ich muss mit dir reden. Allein.«
    »Dann tut das«, wirft Falk ein und steht auf, um Maggie zu mir zu winken. Aber ich will das nicht, nicht jetzt …
    »Nein, bei mir. Ungestört«, bittet Maggie mich.
    Stöhnend stehe ich auf. Maggie ist schon vorgegangen, und als ich ihr Zimmer betrete, hat sie sich bis zum Hals in ihre zartrosa Decke eingewickelt und sitzt damit auf dem Bett. Nur ihre Hände

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