Linna singt
zurückerinnere, in dem ich die Augen aufschlug und das weinende Mädchen im Publikum sah. Mit offenem Mund stand sie vor mir, ergriffen und berührt von dem, was ich da tat, und schluchzte hemmungslos. Sofort verschwand ich wieder in dem schützenden Dunkel hinter meinen gesenkten Lidern, weil ich es nicht aushielt, sie weinen zu sehen … weil ich meinen eigenen Gesang nicht aushielt. So intensiv und verzweifelt.
Die anderen wissen bis heute nicht, für und an wen ich sang. Nicht bei Chains, nicht bei Weak, nicht bei Stop, nicht bei Because of You von Kelly Clarkson, nicht bei Family Portrait von Pink. Sie selbst hätte es ohnehin niemals begriffen, auch wenn sie direkt vor mir gestanden hätte – ja, wenn sie nur ein einziges Mal bei dem zugesehen und zugehört hätte, was ihre Tochter tat. Sie hätte es nicht begriffen. Wie die anderen hätte sie gedacht, dass jeder einzelne Song einem Mann gelte. Dabei sind es keine Songs an Männer. Es sind Songs an Mütter.
Es reicht jetzt, ich kann schon kaum mehr schlucken, ich möchte mir die anderen Titel nicht mehr durchlesen, doch ich lege den Zettel zu langsam weg, zwei, drei entziffern meine Augen noch und beten sie mir ungefragt vor, sodass sie sofort in meinen Bauch kriechen und mit Melodien beseelt werden. Video Games von Lana del Rey, gute Wahl, Maggie. Ein Song, der für meine Stimme komponiert sein könnte – wie sie damals war, damals! Es gibt keine Songs mehr für mich. Auch nicht Foolish Games von Jewel, noch so eine melancholische Nummer, will Maggie das Publikum in den kollektiven Suizid treiben? Wenn ich diesen Song sang, dachte ich immer an Jules, warum, weiß ich nicht; aber sobald ich ihn anstimmte, wusste ich, dass ich die echte Wehmut dahinter erst noch kennenlernen würde, eines Tages … eines Tages würde ich wissen, warum dieser Song geschrieben worden war, und ich bin immer noch nicht erpicht darauf, diesen Tag zu erleben.
Will You? von Hazel O’Connor, oh Scheiße, bitte nicht … Wir können ihn nicht proben, es geht nicht, keine E-Gitarre, ach, wir können ihn sowieso nicht proben ohne Gesang. Ich stütze meine Ellenbogen auf die Knie und fahre angespannt durch meine Haare. Nein, dieser Song richtet sich nicht an eine Mutter, sondern definitiv an einen Mann. An jemanden, den man liebt. Er beginnt schon in den ersten Takten vor Schwermut und Sehnsucht zu schweben. Es war ein genialer Schachzug von uns gewesen, das Saxofonsolo durch Falks Gitarrenspiel zu ersetzen, er ließ sie noch schöner klagen und betteln, als es das Saxofon im Original tat. Meine Nackenhaare richten sich auf, wenn ich nur daran denke.
Ich möchte diese beschissene Songliste zusammenkrumpeln und verbrennen, alles hier möchte ich verbrennen, es soll nichts mehr davon übrig bleiben, so wie von meiner Stimme nichts mehr übrig geblieben ist. Wahrscheinlich kommt mir heute sowieso alles besser und rauschhafter vor, als es in Wahrheit war. Und den anderen wird es genauso gehen, vor allem Maggie. Sobald wir spielen würden, würden wir merken, dass wir eine stinknormale, durchschnittliche Coverband sind, maximal geeignet für eine kleinere Firmenfeier oder ein Schützenfest.
»Na, Schneewittchen?«
Ich drehe mich so heftig herum, dass mein rechtes Knie gegen die Snare kracht, ein helles, hartes Geräusch, das mich sofort zur Besinnung bringt. Falk steht in der Tür, bestens gelaunt und immer noch mit einem letzten Rest Schnee und Eis in seinem welligen, kurzen Zopf. Über Musik will ich mit ihm jetzt nicht reden, schon gar nicht über die Songliste. Ein anderes Thema, Linna, schnell, du hattest dir doch vorm Einschlafen etwas überlegt, was war das noch mal, es war wichtig, es konnte dazu dienen, ihn zu erinnern … an dich zu erinnern …
»Brandalm. Klingelt es da bei dir eigentlich?«
»Brandalm …«, spricht er mir langsam nach und seine Brauen verdichten sich. Oh Falk, denke ich zärtlicher, als mir lieb ist. So hat er früher schon geschaut, wenn er nachdachte. An seinem Blick hat sich kaum etwas geändert, es hat sich nur das gefestigt und intensiviert, was damals schon da war – als hätte er eine innere Sicherheit gefunden, die durch nichts auf der Welt zu erschüttern ist. Wo findet man so etwas? Was hat ihn zu diesem Bären werden lassen, der hier vor mir steht, die Füße mindestens einen halben Meter auseinander und die Zehen leicht nach innen gedreht, als würden ihn hohe Wellen umspülen, die ihn zwingen, auf diese Weise seine Balance zu sichern?
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