Linna singt
Gleichzeitig scheint sich das entrückte Blau seiner Augen in anderen Sphären zu bewegen, so kühl, so weit weg … Was für ein Geschenk war es, wenn er einen direkt angesehen hat, und das ist es immer noch, denn sein Blick richtet sich nicht auf mich, sondern an mir vorbei aus dem Fenster, während er nachdenkt. Er weiß nicht, worauf ich anspiele. Ich muss ihm auf die Sprünge helfen. So etwas wie das, was ihm an diesem Abend widerfahren ist, vergisst man nicht.
»Skifreizeit, zehnte Klasse, der letzte Abend. Wir sollten uns in Zweiergruppen hintereinander aufstellen, im Dunkeln, und du solltest uns durchzählen, weißt du nicht mehr?«
Er muss das noch wissen!
»Der Lauer«, murmelt er und das Lächeln schwindet aus seinem braun gebrannten Gesicht. Er erinnert sich! »Dieses Arschloch von einem Lehrer.«
Ich konnte diese Szene niemals vergessen – wie sollte er sie vergessen haben, wo er doch das Opfer war? Obwohl Falk in meine Parallelklasse ging und wir mehrere Klassenfahrten zusammen verbrachten, war er für mich immer jemand gewesen, den man nicht anspricht, ja, dem man sich nur nähert, wenn es keinen anderen Weg gibt. Er wollte in Ruhe gelassen werden. Falk verwickelte man nicht in ein Gespräch, man fragte ihn nicht, ob er auf eine Party kommt oder eine rauchen will oder gar mit einem ausgeht. Das waren geradezu absurde Gedanken. Ich glaubte nicht, dass er etwas Besseres war, dieses Gefühl beschlich mich nur bei seinen Schwestern. Er schien mir lediglich zufrieden mit seiner Abseitsposition zu sein und bis zu unserer gemeinsamen Nacht konnte ich sie ihm auch überlassen.
Aber dem Lauer gelang das nicht. Er hasste es, wenn sich jemand abseits seiner Herde bewegte, vor allem, wenn es hübsche, stille Jungs wie Falk waren. Mich konnten viele Lehrer nicht ausstehen, ich war ihnen zu frech und zu rebellisch, doch der Lauer hat mich regelrecht gehasst und keinen Hehl daraus gemacht. Er sprach vor anderen Schülern offen aus, dass er eine Antipathie gegen mich hegte. Falks Schwestern hatte er längst in sein zuckersüßes Nest aus betulichem Vertrauenslehrergehabe und pseudoreligiösen Aktivitäten locken können, sogar auf der Skifreizeit musste er sie uns aufdrängen, abendliche Gesänge und Gottesdienst im Schnee. Ich weigerte mich, Falk ebenso. Doch gerächt hat der Lauer sich nicht an mir, sondern allein an Falk. Wohl wissend, dass er bei mir mit seinen Spielchen keine Chance gehabt hätte, pickte er sich den vermeintlich Schwächeren heraus.
Es war der letzte Abend und alle drei Klassen des Jahrgangs sollten auf der Brandalm Abschied feiern, einer kleinen bewirtschafteten Hütte im Wald abseits des Skigebiets. Es sollte romantisch werden, Nachtwanderung durch den Schnee und dann Gitarre spielen und gemeinsam singen. Aber vorher musste diese grandiose Fehlbesetzung eines Pädagogen seinen gesamten Frust an Falk auslassen, weil er es nicht geschafft hatte, ihn in seine Herde zu locken. Er hat ihn uns durchzählen lassen, eine Gruppe unruhiger Schüler im Dunkeln – ein Ding der Unmöglichkeit, doch immer wieder musste Falk ihm sagen, wie viele wir waren, damit der Lauer entgegnen konnte: »Falsch. Zähl noch einmal. Wir gehen erst los, wenn du richtig gezählt hast.«
Es gab zwei Momente in meinem Leben, in denen ich mich Falk so nahe gefühlt habe wie keinem anderen Wesen zuvor: dieser eine Moment auf unserer Skifreizeit, als er stumm gehorchte und trotzdem so voller Protest und Bockigkeit war, dass er mir imponierte, und in unserer gemeinsamen Nacht, als er mich im Flur sanft gegen die Wand drückte und küsste.
»Oh, ich erinnere mich gut daran«, knurrt Falk in die Stille hinein. »›Du bist sogar zu dumm zum Zählen‹, hat er zu mir gesagt. Aber wenn ich mich gewehrt hätte, wäre es zu Handgreiflichkeiten gekommen …«
Ja, genau das hatte ich damals auch gedacht. Das war es, was Lauer zu provozieren versuchte. Dass Falk sich wehrte und er einen triftigen Grund hatte, ihn anzufassen. Denn das wollte er. Ihn anfassen, diesen hübschen, stillen Jungen mit den Eisaugen.
»Weißt du, was ich denke? Dass er in Wahrheit in dich verknallt war und es nicht verkraften konnte, dass du dich ihm entzogen hast.«
Falks Blick ist immer noch in die Ferne gerichtet. Hat er überhaupt gehört, was ich gerade gesagt habe?
»Ich hab deinen Hass gespürt. Aber erniedrigt hast du auf mich nicht gewirkt, ehrlich nicht … Ich war in diesem Augenblick ganz nah bei dir. Ich mochte dich und war kurz davor,
Weitere Kostenlose Bücher