Linna singt
Abend, an dem man alles verzeiht, an dem ich sogar sie für eine Weile vergessen konnte. An dem sie nicht existent war, als wäre sie tot und schon vor langer Zeit begraben worden. So, dass man sich daran gewöhnt hat. Sie konnte mir nichts anhaben – und sie konnte mir nicht das nehmen, was passieren sollte.
Wir hatten geprobt und anschließend im Garten gegrillt, in dem Haus von Jules’ Eltern, die zu dieser Zeit im Urlaub waren. Es herrschte Chaos vom Keller bis zum Dachboden, ein inspirierendes Chaos mit Noten, Instrumenten und selbst gebrannten CDs ohne Hüllen. Kein schmutziges Chaos, sondern ein kreatives. Das ganze Haus voller Musik, Tag und Nacht.
Unsere Steaks verbrannten bis zur Unkenntlichkeit, weil Jules sie viel zu früh auf den Grill legte, ich hatte mich dabei an ihn gelehnt, ich weiß es noch genau. Da war dieses stille, schöne Schweigen gewesen, das es nur zwischen Jules und mir gab. Alle anderen wollten ihn zum Reden bringen, seine coolen Sprüche hören, seine Witze und kühnen Pläne für später. Für Maggie war es eine Lebensaufgabe, Jules zu einer abendfüllenden Unterhaltung zu bewegen. Mir war er schweigend am liebsten. Wenn er schwieg, hatte ich das Gefühl, wir seien Geschwister im Geiste, aber wenn er redete, gehörte er den anderen.
Nach dem Essen spielten wir aus einer Schnapsidee heraus im Dunkeln Badminton, mit vollen Bäuchen. Gegen meine Schmetterschläge war selbst Jules machtlos, doch irgendwann musste ich vor lauter Rumalberei so sehr lachen, dass ich meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ich weiß nicht, wie genau wir in die Stadt kamen, wir hatten alle getrunken. Ich glaube, ich bin gefahren, und eigentlich wollten wir zusammen ins Durchbruch gehen, als Jules plötzlich sagte, dass diese Nacht eine Sternschnuppennacht sei, Perseidenschauer, und dass wir diese Nacht nicht in einer Kneipe verbringen dürften. Simon fand das auch, in seiner ruhigen, gewissenhaften Art. In vollem Ernst pflichtete er Jules bei, während Maggie vor Kichern Schluckauf bekam, weil Jules Sternschnuppen anschauen wollte. Jules! Und Sternschnuppen! Falk sagte gar nichts. Wie ich.
Wir wollten keine Sternschnuppen sehen. Wir wollten uns sehen. Während ich zurückfuhr und Maggie und Simon blödelnd ihre rudimentären Sternbildkenntnisse zum Besten gaben, schwieg Falk und ich fühlte seine Blicke auf meinem Nacken und meinem Rücken. Ich fror keinen Atemzug lang.
Die anderen blieben im Garten, lachten miteinander und sprachen über Wünsche, doch mein Wunsch war hier, direkt vor mir, Falks Lippen, so weich und schön. Zu schön. Ich musste dauernd aufhören, ihn zu küssen, um ihn anschauen zu können. Im Halbdämmer wirkten seine Augen wie dunkle, glitzernde Steine, gar nicht so fern wie am Tage, und ich eroberte sein Gesicht mit den Fingerspitzen. Seine Haut schimmerte bronzen und fühlte sich warm unter meinen Handflächen an, aber sein Griff war bestimmt und unmissverständlich, als er einen Arm um meine Taille legte und mich die Treppe hinaufschob. Noch immer hatten wir nicht geredet, nicht ein Wort, und mir schossen tausend Sätze durch den Kopf, Bitten, Ausreden, Proteste, Hilferufe, Flehen, Fluchen, doch dann waren wir im Schlafzimmer von Jules’ Eltern und Falks Hände unter meinem Shirt und ich sagte nur diesen einen Satz.
»Die Hose bleibt an.«
Selbst jetzt muss ich lachen, wenn ich daran denke. Himmel, was für ein idiotischer Satz. Die Hose bleibt an. Das Merkwürdige war, dass Falk genau verstand, welche Hose ich meinte. Seine Unterhose nämlich. Nicht meine. Seine. Eng anliegende, knappe Shorts, fast zu sexy für einen jungen Kerl wie Falk, der sich nicht viel aus Mode machte.
Er fügte sich meinem Wunsch. Die Hose blieb an. Vielleicht ahnte er, dass ich ihn sonst hochkant rausgeschmissen hätte, obwohl ich das, was wir hätten tun können – also ohne Hose –, im Kopf schon unzählige Male durchexerziert hatte, und zwar exakt mit dem Mann, der mir gerade mein letztes Hemd über den Kopf zog, als hätte er nie etwas anderes getan.
Aber das Schönste war das Schauen gewesen. Das ungehinderte Schauen und Mit-den-Händen-Nachfühlen. Falk ließ sich ebenfalls Zeit, mich anzusehen, ernst und männlich und ein wenig erstaunt, vielleicht auch scheu. Eine Kombination, die mich entwaffnete. Deshalb musste die Hose ja anbleiben. Ich hatte ihm nichts mehr entgegenzusetzen. Aber war das der einzige Grund? Oder … oder war es auch ihm lieber, dass nicht alles passierte?
Doch
Weitere Kostenlose Bücher