Linna singt
miteinander, verstehen kann ich nichts. Ich will es gar nicht verstehen. Ich kann mir denken, worüber sie reden … über mich und meine vermeintlichen Lügen …
Die Stimmen werden lauter, aufgeregter, dann höre ich, wie einer von ihnen an der Klinke der Eingangstür rüttelt. Nur einen Sekundenbruchteil später löst sich mit einem lauten Krachen Schnee vom Dach, ein ohrenbetäubendes Rattern, das so plötzlich verstummt, wie es gekommen ist. Schnee fällt in Schnee. Das hört man nicht. Es muss alles voller Schnee sein da draußen. Kein fester Grund mehr.
»Linna! Linna, komm mal bitte! Linna?« Schon hämmert Maggie gegen meine Türe. »Linna, wir brauchen deine Hilfe!«
Soso. Meine Hilfe. Meine Hilfe werden sie vielleicht bekommen, aber Falk werde ich heute nicht einen Funken Aufmerksamkeit schenken, nicht ein Wort und erst recht keinen Blick. Seufzend gehe ich zur Tür, öffne sie und laufe Maggie hinterher zu meinen wundervollen Freunden in die Stube. Auch hier herrscht nur diffuses Halbdunkel.
»Wir kriegen die Tür nicht auf!« Maggies Wangen sind hochrot. »Wir sind eingesperrt, wir kriegen die Tür nicht auf!«
»Schatz, beruhig dich mal.« Jules nimmt sie unbeholfen bei den Schultern und zieht sie an seine Brust. Dann hebt er seinen Blick und sieht mich an, als sei der gestrige Abend nicht geschehen. Sachlich, cool, überlegen, Jules. »Maggie hat recht, wir kriegen die Tür nicht auf, der Schnee ist zu hoch.«
»Und was soll ich machen? Ihn durchs Schlüsselloch wegpusten?«
»Durchs Fenster nach draußen klettern«, ignoriert Simon meine Spitze. Er hat es bereits geöffnet, das obere kleine Fenster links neben der Tür. Es war mir nie aufgefallen, aber nun ist es das einzige, durch das noch Licht dringt. Der Sturm muss den Schnee zu meterhohen Wehen aufgetürmt haben.
In der Stube ist es so frostig geworden, dass unser Atem zu kleinen Wölkchen gefriert. Der Orkan hat die Wände der Hütte vollkommen ausgekühlt.
Ich gehe zur Garderobe und ziehe mir meine Jacke über. Meine Fäustlinge liegen noch im Zimmer, aber ich hole sie nicht; es ist besser, wenn meine Finger beweglich bleiben. Jules lässt Maggie los, um mir die Hand zur Räuberleiter anzubieten. Ich bin die Schmalste von allen und damit die Einzige, die uns aus dieser Situation befreien kann. Maggies Hintern würde in dieser engen Luke stecken bleiben, ganz zu schweigen von den breiten Schultern der Jungs. Allenfalls Simon hätte eine Chance, so hager, wie er geworden ist, doch ich bitte ihn gar nicht erst.
Es ist auch für mich kein Kinderspiel. Ich will mich nicht kopfüber in den Neuschnee fallen lassen, sehe aber keine andere Möglichkeit, als mich mit den Armen und dem Rumpf zuerst aus dem Fenster zu schieben. Trotzdem gelingt es mir, mich im Fallen zu drehen und auf den Füßen aufzukommen. Überrascht quietsche ich auf, weil ich bis zu den Hüften in den Schnee einsinke, ein weicher, angenehmer Fall, aber die eisige Luft raubt mir für einen Moment den Atem. Japsend suche ich nach meinem Gleichgewicht. Ich muss kämpfen, um meine Knie anheben zu können, denn der Altschnee ist feucht und schwer. Mit den Armen schaufele ich mich mühsam frei, doch meine Jeans ist bereits durchnässt.
Schnaufend halte ich inne und sehe mich um. Die Landschaft ist nicht wiederzuerkennen. Geblendet von dem harten, grellen Weiß um mich herum hebe ich die Hand vor meine Augen, sehe aber durch meine gespreizten Finger unvermindert hinein, weil ich nicht anders kann – so weiß, so rein und sauber … Ich kann nicht sagen, wo die Terrasse anfängt und aufhört, die Bänke sind komplett verschwunden, sogar die Tannen sind zu weißen Statuen erstarrt, die sich unter der Last des Schnees krümmen.
Direkt neben mir türmt er sich mannshoch auf, das muss die Stelle sein, an der die Dachlawine heruntergegangen ist. Es ist aussichtslos, mich allein zum Anbau vorzuarbeiten, um Holz zu holen. Wenn ich das versuche, erfriere ich, ehe ich ihn erreicht habe. Ich muss erst die Tür freischaufeln und dann müssen die Jungs mir helfen, einen Pfad zum Anbauschuppen zu schlagen. Stand hier nicht gestern eine Schneeschippe herum, als Jules und ich in den Himmel schauten? Auch sie wurde vom Schnee begraben.
Alle Überlegungen sind sinnlos, ich muss sofort anfangen, sonst hole ich mir den Tod. Meine Nase läuft ohne Unterlass und meine Knie schlottern vor Kälte, während ich mich immer wieder bücke und mit beiden Armen den Schnee vor der Tür abtrage, nicht einmal
Weitere Kostenlose Bücher