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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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ich war froh, dass es nicht geschah, welchen Grund auch immer es hatte. Ich wollte es nicht verderben, nicht mit ihm. Mit ihm war es anders. Weil ich ihm nichts schuldig war in dieser Nacht. Er konnte nichts von mir erwarten. Wir hatten vorher nie mehr miteinander geredet als Sätze wie »Noch mal ab der Bridge« oder »Versuch es mal in E« oder aber »Halt’s Maul«. Ich hatte keine Show abziehen müssen, um ihn zu kriegen. Wir wussten beide genau, dass wir uns nehmen konnten, was wir wollten, und es wahrscheinlich nie wieder eine solch verzauberte Nacht geben würde. Keine Lügen, keine leeren Versprechungen. Keine Entschuldigungen. Aber was gab es schon zu entschuldigen …
    Wir schauten und fühlten uns satt, sagten nichts, bis ich auf seine Brust sank, eine haarlose, glatte Brust. Er wickelte mich mit seinen Armen und Beinen ein wie ein lebendes Päckchen und hielt mich fest und wir fielen in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Ich hätte gerne noch ein Weilchen geguckt, aber ich konnte meine Augen nicht mehr offen halten. Nie zuvor und nie danach in meinem Leben war ich so müde wie in diesem Moment. Bevor das Nichts mich holte, dachte ich noch: Wir haben schön ausgesehen. Wir waren eins. Ich möchte mich immer so schön fühlen …
    Als ich wieder aufwachte, war ich allein. Der Himmel leuchtete blau, die Sternschnuppen blieben unsichtbar. Jules hatte einen Kater und Maggie Migräne. Nur Simons Augen strahlten wie eh und je. Falk blieb verschwunden, und als die Post kam, war Maggies Studienplatzzusage dabei. Sie weinte fast vor Freude. Jules verbarg sich in Schweigen. So in sich gekehrt und wortkarg hatte ich ihn selten erlebt. An das, was danach kam, möchte ich nicht denken – ich wollte es nie. Ich konnte nur wieder zurückkehren zu dem Moment, als alles anfing, mit verbrannten Steaks, Lachen im Dunkeln und den Sternschnuppen; in manchen Momenten war mir, als sei diese Nacht mein ganzes Leben gewesen, und wenn ich irgendwann sterbe, würde ich in den letzten wachen Sekunden nur daran denken und an nichts sonst. Für diese Nacht hätte es sich zu leben gelohnt.
    Doch Falk hat sie zerstört. Er erinnert sich nicht. Mir entweicht ein kindliches Wimmern, aber meine Hände ballen sich erneut, damit sie dem Schmerz in meiner Seele das passende Gegengewicht verleihen. Ich schiebe sie in meine Achselhöhlen, um sie an dem zu hindern, was sie so gerne tun wollen. Beim letzten Mal hatte ich mehrere Blutergüsse an der Stirn, die tagelang schmerzten. Niemand sah sie, mein dunkles Haar hat sie gut verborgen, aber sie begleiteten mich und erinnerten mich bei jeder Regung meines Gesichts daran, was ich getan hatte.
    In diesen Tagen schwor ich mir, von nun an nur noch andere zu schlagen. Aber selbst im Ring gehe ich nicht k. o. Bisher hat es noch keine geschafft, mir das Bewusstsein zu rauben. Die K.-o.-Schläge setze ich allein.
    Auch jetzt weiß ich, dass ich wieder aufstehen werde. Ich werde mich nach einigen stillen Minuten erheben, mein Kreuz durchdrücken und das machen, was Menschen tun, die Maschine läuft weiter, sie läuft immer weiter.
    Und so ist es auch heute.
    Als unten die letzte Tür zuklappt und nur noch das Heulen des Schneesturms zu hören ist, stehe ich auf, streiche meinen Pulli und meine Hose glatt, binde meine Haare zu einem ordentlichen Zopf, gehe in die Stube hinab, esse und trinke etwas, benutze das eiskalte Klo, wasche mir die Hände, krieche steif unter meine schwere Bettdecke und wünsche mir, mein Körper würde endlich begreifen, dass meine Seele heute Abend gestorben ist.

PICTURES IN THE DARK
    Ich mache die ganze Nacht kein Auge zu. Der Sturm verweigert mir den Schlaf und damit auch das Vergessen. Er rüttelt und zerrt am Gebälk der Hütte, als wolle er sie mit sich in die Lüfte reißen, schleudert fauchend winzige Eisklümpchen gegen die Fensterläden, er lässt unsere Türen erzittern und jagt heulend durch den Kamin. Ein wildes Tier, das meine chaotischen Gedanken anfacht, vor allem dieses ewige Warum, das sich immer wieder neu bildet, dabei weitere kranke Facetten kreiert und niemals eine Antwort findet.
    Ich möchte nach draußen in den Orkan treten und schreien, dass es wahr ist, dass es geschehen ist, dass ich mir das alles nicht eingebildet habe, aber es kommt mir vor, als lache auch er mich aus. Im Zimmer wird es mit jeder weiteren schlaflosen Stunde kälter. Wir haben vergessen, Holz nachzulegen. Alles war plötzlich nebensächlich, als wir uns oben auf dem Dachboden

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