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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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gegenseitig in die Mangel nahmen.
    Was wohl die anderen denken? Für sie muss es eher amüsant gewesen sein, Linna erfindet eine Nacht mit Falk, um sich wichtigzumachen. Für Maggie mag es sogar eine Art ausgleichende Gerechtigkeit sein, sie hat mich immer um meine Anziehungskraft auf Männer beneidet. Aber ihre Schadenfreude hielt sich in Grenzen, wirkte unecht und peinlich berührt. Und erst Jules … War ihm nicht bewusst, dass ich gerade die Arschkarte gezogen hatte? Wie kommt er dazu, mir einen Vorwurf aus meiner misslichen Lage zu machen? Das passt nicht zu ihm – nicht zu dem, was er früher war.
    Erst gegen Morgen schlüpfe ich widerwillig aus meinem klammen Bett und laufe schlotternd hinüber in die Stube, um den Ofen anzufeuern. Die Asche ist nur noch lauwarm. Viel Holz ist nicht übrig, es reicht gerade so, um ein Feuer zu machen, das bis zum Vormittag brennen wird, und ich habe Mühe, es zu entfachen. Alles kommt mir feucht vor, sogar die Streichhölzer. Meine Hände zittern so stark, dass ich sie kaum anzünden kann. Erst beim dritten Versuch klappt es.
    Der Sturm ist etwas leiser geworden, doch sein Singen wirkt auf mich nicht, als wolle er sich mit dem, was er angerichtet hat, begnügen. Noch können wir seine Taten nicht bewundern, es ist stockdunkel, kein Mond und keine Sterne scheinen zu uns herab, um den Schnee zum Glitzern und Funkeln zu bringen. Der Orkan hat alles Licht der Welt verschluckt.
    Die frühen Morgenstunden verbringe ich aufrecht im Bett und warte, dass sich etwas tut und einer der anderen den Anfang macht, für sie ist es doch leichter als für mich. Mit Ruhm bekleckert hat sich keiner von uns, aber alle kamen besser davon als ich. Doch obwohl ich ihre Gegenwart spüre, jede einzelne Seele, ohne sie zu verstehen, scheinen wir wie gelähmt zu sein.
    Auch ich krieche erst wieder aus dem Bett, als meine Rückenmuskeln vom langen Sitzen verkrampfen. Steif wie eine rheumatische alte Frau ziehe ich mir meine lange Unterwäsche, einen dicken Pulli und meine Jeans an. Der Spiegel über dem Waschbecken ist beschlagen. Ich wische mit der flachen Hand darüber, bis mein Gesicht verschwommen zu erkennen ist.
    »Spieglein, Spieglein an der Wand«, flüstere ich und lasse meine schmerzenden Schultern sacken. »Wer ist die Schönste im ganzen Land?« Was sehen die anderen, wenn sie mich sehen? Ich finde mich gar nicht außergewöhnlich hübsch. Vielleicht bin ich sogar überhaupt nicht hübsch. Sie behaupten das immer, die Männer, manche sagen hübsch, manche schön, manche setzen beides im fliegenden Wechsel ein, um mir zu schmeicheln, aber was meinen sie? Meine Augen? Meinen Mund? Die auffällig hoch sitzenden, ausgeprägten Wangenknochen, ein Erbe meiner Großmutter? Die nicht hübsch war, aber – stolz. So stolz. Und damit schön, von innen heraus.
    Ich ziehe meine Wirbel ein Stück auseinander, als ich an sie denke. Ich habe sie nie kennengelernt, könnte ihr Gesicht jedoch blind zeichnen, genauso wie das vergilbte Schwarz-Weiß-Foto, das sie auf ihrem Pferd zeigt, hinter ihr nur sanft gerundete Hügelketten und ein endloser mattgrauer Himmel. Auch meine Augen habe ich von ihr geerbt: Ihre waren noch schräger und schmaler als meine, doch sie hatten die gleiche Farbe. Ein Braun, das so dunkel ist, dass man es nur dann als solches erkennen kann, wenn ich ins Helle blicke.
    Meine Großmutter trug ihr Haar stets lang oder zu einem Knoten gebunden. Ich bedauere es, dass sie meines nie sehen und fühlen konnte. Es ist so glatt und seidig. Niemals hätte sie es mir nehmen wollen. Ich schließe die Augen und fahre mit den Fingern durch meine knisternden Strähnen. Ich sehe nicht hin, während ich sie zu einem Zopf flechte. Das kann ich blind. Als ich fertig bin, lasse ich ihn sanft auf meinen Rücken gleiten, wo er schwer und kühl liegen bleibt, und horche nach draußen.
    Der Sturm hat sich weiter zurückgezogen. Jetzt sind es nur noch Windböen ohne Schnee, die um das Haus geistern. Wir müssen diese Zeit nutzen, unbedingt. Noch immer ist es dunkel in meinem Zimmer, trotz des schwachen Gaslichts neben dem Spiegel; ich habe die Läden nicht geöffnet. Ich bezweifle, dass dies ohne Weiteres möglich ist. Es hat die ganze Nacht geschneit.
    Als ich mich von meinem Spiegelbild abwende, kommt mit einem Mal Leben in die Hütte. Wie auf eine stille Verabredung hin knarren die Türen der anderen, ich höre ihre Schritte an meinem Zimmer vorbeiziehen, den Flur entlang zur Stube, sie murmeln gedämpft

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