Linna singt
Gähnen.
»Können wir das mit dem Abhauen mal abhaken? Okay, ich hab den Kopf verloren, ich hatte einen Kater, kann passieren, oder? Und jetzt will ich meine Sachen zurück. Ihr habt sie mir weggenommen und meine Klamotten durchwühlt. Als Strafe. Stimmt’s?«
Prüfend schaue ich ihn an. Er guckt abwesend aus dem Fenster hinaus in den Schnee und sieht dabei aus wie ein junger Gott, mit seiner hübschen geraden Nase und seinem markanten Kinn und dem lockigen Haar. Verflucht, hat der Junge ein edles Profil, stelle ich betreten fest. Damit macht er es mir nicht leichter, ihm zu grollen. Als er meine Blicke bemerkt, wendet er sich mir zu, den Mund weich und die hellen Augen kühl wie immer, und für einen Moment rutsche ich in eine Zeitschleife und stehe mit meinen Klassenkameraden im Dunkeln auf dem verschneiten Weg und beobachte Falk, wie er uns durchzählen muss, immer und immer wieder, und Lauer wartet nur darauf, dass er sich vergisst und er ihn dafür bestrafen kann. Doch Falk hat es ihm nicht gegönnt. Er hat die einzige Chance genutzt, die er hatte: Er hat sich seine Wut und seinen Hass nicht anmerken lassen und genau das war für Lauer die größte Strafe, die er bekommen konnte.
Ich spüre, wie auch mein Blick kühl wird. Du hast mich inspiriert, Falk.
Ich mag gefangen sein und es mögen ein paar meiner Sachen fehlen, aber es wird mich nicht töten. Ich muss an Spiel mir das Lied vom Tod denken, an meine Lieblingsszene, in der Jill von dem Ekel Frank bedrängt wird, doch anstatt zu betteln und zu jammern, sagt sie: »Mir macht das nichts aus. Ich werd’ schon nicht daran krepieren. Denn wenn’s vorbei ist, nehme ich mir einen großen Eimer warmes Wasser und alles ist, wies vorher war. Dreckige Erfahrungen im Leben können nicht schaden.« Ich habe vorhin überreagiert, ja. Vielleicht war ich auch panisch. Aber ich lebe noch und es muss niemand davon erfahren.
»Kein Wort zu den anderen«, sage ich drohend und Falk weiß sofort, was ich meine. »Kein Wort. Nicht von der Lawine, nicht …«
»Falk? Falk, bist du wach?« Wir schrecken hoch und auch Luna hebt alarmiert den Kopf. Ich wurstele auch meinen anderen Arm aus der Decke und fange wild an zu gestikulieren. Maggie soll nicht erfahren, dass ich hier drinnen bei Falk bin. Gar nichts soll sie erfahren.
»Was ist?«, fragt Falk kurz angebunden zurück und legt ein theatralisches Gähnen nach. Nicht sehr glaubwürdig.
»Was war das eben? Ich hab ein Rumpeln gehört von draußen.«
»Da ist eine kleine Lawine abgegangen, neben der Hütte. Ich war gerade mit Luna Gassi, als es passiert ist. Verlasst besser nicht die Terrasse, ist zu gefährlich.«
»Okay …« Ich kann geradezu hören, wie Maggie überlegt. »Hast du Linna schon gesehen? Ist sie oben oder hat sie in ihrem Zimmer geschlafen?«
»Die schläft bestimmt noch. Oben ist sie nicht, ich hab meine Gitarre geholt, da war niemand.«
Sofort richte ich mich auf und schaue mich um, aber Falk hat nicht geflunkert, die Gitarre lehnt an seinem Schrank. Er muss heute Nacht auf ihr herumgeklimpert haben.
»Okay …«, sagt Maggie noch einmal und dieses Okay ist geschwängert von tausend kleinen Nebenbedeutungen. Sie wartet darauf, dass ich »durchdrehe«, so, wie sie es am ersten Abend hier oben prophezeit hat. Nein, Maggie, du kriegst deine Vorstellung nicht. Darauf kannst du hoffen, bis dir Haare aus dem Kinn sprießen. »Ich werde dann mal langsam Frühstück machen.«
Falk erwidert nichts mehr, sondern wartet nur ab, bis ihre Schritte verklingen. In gedämpftem Ton greife ich den Faden wieder auf.
»Du erzählst niemandem, dass ich in dieser Lawine steckte, weil ich abhauen wollte, okay? Meinst du, uns hat jemand gesehen?«
Falk schüttelt entschieden den Kopf. »Dann wären sie dazugestoßen, um zu helfen. War spät gestern, wir haben noch ein paar Bier gezischt.«
»Sicher, dass sie das getan hätten?«, frage ich hart. »Dein Wort in Gottes Gehörgang. Es weiß also niemand außer uns. Und dabei wird es bleiben.«
»Ich lasse mich nicht erpressen«, erwidert Falk langsam und ich glaube ihm sofort.
»Und ich lasse mich nicht für dumm verkaufen«, gebe ich trotzdem hartnäckig zurück. Er muss wissen, worauf ich anspiele. Auf unsere gemeinsame Nacht.
»Von mir aus. Ich sage nichts.«
Ich kann ein erleichtertes Aufatmen nicht verbergen. Bedeutet sein Einknicken, dass er sich doch erinnert? Oder willigt er nur in unsere Vereinbarung ein, weil er das fair findet? Er steht auf, schlurft zum
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