Lippels Traum (German Edition)
Hamide. »Hast du schon einmal einen Sandsturm erlebt?«
»Nein«, sagte Lippel. »Aber in meinem Buch ›Im Morgenlande‹ gibt es ein Bild …«
»Wir haben wenig Zeit, die Wächter kommen zurück«, unterbrach ihn Hamide. »Der Sandsturm ist schrecklich, du wirst es erleben. Du brauchst ein Tuch für Nase und Mund. Hast du nur dieses Gewand? Hast du keinen Turban?«
Lippel schüttelte den Kopf.
»Dann nimm dieses Tuch hier!«, sagte sie und reichte ihm ihr geblümtes Kopftuch. »Wir fliehen, wenn der Sturm losbricht. Selbst wenn sie uns verfolgen, werden sie uns nicht finden. Sie werden nichts erkennen können im Sturm. Wir müssen dicht zusammenbleiben. Wir dürfen uns nicht verlieren, sonst sind wir verloren! Still jetzt, sie sind zurück!«
Aber dann wollte sie doch noch etwas wissen. »Wie heißt du eigentlich?«, fragte sie.
»Lippel«, sagte er. Und sie nickte und wiederholte »Lippel«, als sei das der selbstverständlichste Name der Welt.
Die Wächter hatten die Wolke ebenfalls bemerkt. Sie war erstaunlich schnell gewachsen und stand wie eine drohende Gewitterwand am Horizont.
»Schnell, sucht Schutz hinter jener Mauer und hüllt euch fest in eure Gewänder! Bedeckt Augen, Mund und Nase!«, befahl der Anführer. »Ein Sandsturm kommt. Er ist gleich hier.«
Und Gefangene wie Wächter kauerten sich hinter eine halb verfallene Lehmmauer.
Dann wurden auch schon Millionen kleiner Sandkörner mit fürchterlicher Gewalt gegen Lippels Körper geschleudert, verstopften ihm die Nase, reizten seine Augen und drangen selbst durch seinen Regenmantel. Er schlang seine Arme um den Kopf, hielt Hamides Tuch vor die Nase und rang mühsam nach Luft.
Jemand rüttelte an seinem Arm. Es war Asslam. Lippel schaute hinüber zu den Wächtern. Sie hatten ihre dunklen Wollmäntel über den Kopf gezogen und saßen unbeweglich, wie halb vom Sand verschüttete Felssteine.
Die drei Kinder fassten sich bei der Hand und kämpften sich durch den Sturm, hinüber zu den Pferden, die aufgeregt und schnaubend an ihren Haltestricken zerrten.
Sie lösten die Stricke der sechs Pferde, hielten drei am Zügel fest und ließen die anderen frei. Die Pferde der Wächter stürmten davon, verschwanden in einer dunklen Wolke aus Staub und Sand. Dann schwangen sich die drei aufs Pferd und ritten los. Die Wächter hatten noch immer nichts gemerkt, das Heulen des Sturmes übertönte das Hufgetrappel.
Asslam ritt voraus, dahinter ritt Hamide, als Letzter folgte Lippel.
Er wollte sein Pferd dicht hinter den beiden anderen halten. Aber der Wind verfing sich in seinem Regenmantel, blähte ihn auf wie ein Segel und riss Lippel fast vom Pferd. Er versuchte den Mantel auszuziehen. Das gelang ihm schließlich. Der Mantel wurde vom Sturm gepackt und flog davon. Das verängstigte Pferd erschrak, bäumte sich auf, warf Lippel dabei ab und stürmte hinaus in die Wüste.
»Asslam! Wartet auf mich!«, schrie Lippel. Aber das Tosen des Sturmes war so stark, dass nicht einmal Lippel selbst seine Stimme hörte.
Er kauerte sich in den Sand, in den Schutz einer flachen Sanddüne. Der Sturm ließ nicht nach, er wurde eher noch stärker.
Mühsam presste er das Tuch vor Mund und Nase. Er bekam kaum noch Luft und meinte jeden Augenblick, nun müsse er ersticken.
Ein besonders heftiger Windstoß riss ihm das Tuch aus der Hand. Lippel schlug mit den Armen um sich, bekam plötzlich wieder Luft, atmete tief ein – und wachte auf.
Frau Jakob stand im grünen Morgenmantel neben seinem Bett und hatte sein Kopfkissen in der Hand.
»Guten Morgen, Philipp«, sagte sie. »Du musst aufstehen. Schläfst du immer mit dem Kopfkissen auf dem Gesicht? Bekommt man da überhaupt Luft?«
»Ist der Sturm vorbei?«, fragte Lippel verwirrt.
»Der Sturm?«, wiederholte Frau Jakob. »Ach, du meinst das Gewitter heute Nacht. Hast du es gehört? Bist du davon aufgewacht? Das Wetter spielt wirklich gaaanz verrückt. Mal regnet es, mal scheint die Sonne, und nun dieser Sturm! Aber jetzt ist er vorbei.« Sie zog die Vorhänge auf. »Siehst du: Die Sonne scheint. Höchste Zeit zum Aufstehn!«
»Ja«, sagte Lippel. »Die Sonne scheint wirklich wieder.«
Frau Jakob sagte: »Ich geh schon mal nach unten und mache uns Frühstück. Und du gehst ins Bad, Philipp! Aber nicht wieder einschlafen!« Damit verließ sie das Zimmer.
»Die Sonne. Kein Sand mehr. Ich bin gerettet«, murmelte Lippel und setzte sich auf. Er musste erst einmal seine Gedanken ordnen. Er war zu Hause, in seinem Bett.
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