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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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ich sagte.
    Und dann passierte etwas Schreckliches – zumindest aus der Sicht meiner Mutter: Sie hörte einmal das Läuten nicht. Oder, viel wahrscheinlicher: Sie hatte plötzlich die Fantasie, sie könnte das Läuten nicht hören. Daraus entstand eine reale Panik davor, das Läuten nicht zu hören. Sie stellte sich vor, die Schwestern würden bei anderen Bewohnern im Haus klingeln, um unten ins Treppenhaus gelassen zu werden, und daraufhin wären die Nachbarn gegen Mama aufgebracht, weil sie dauernd gestört würden.
    Immer, wenn sie Stimmen im Hausgang hörte, glaubte Mama nun, es ginge um sie. Dabei war es meist nur der Paketbote oder die Kinder aus dem Erdgeschoss. Dass sie wegen der Schwerhörigkeit kaum etwas verstand, machte die Sache eher noch schlimmer. Schließlich stellte Mama am frühen Nachmittag gegen 15 Uhr einen Stuhl in den zugigen Flur. Da saß sie nun und wartete auf den abendlichen Pflegedienst, stundenlang. Innerlich rezitierte sie die Namen der Pflegerinnen, die Uhrzeiten, die Wochentage. Pflegedienst-Verfolgungswahn.
    Bis auf die aufgeregten Anrufe bekamen wir zunächst gar nichts von alldem mit. Das klingt angesichts der Heftigkeit von Mamas Pflegedienst-Besessenheit unglaublich. Es lässt sich aber dadurch erklären, dass sie immer versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie hatte wohl Angst davor, sich weiteren Ärger einzuhandeln. Zum Beispiel noch mehr Pflegerinnen.
    Glücklicherweise hatte weder ich noch sonst jemand von der Familie die Pflegerinnen bestellt. Wir waren alle ganz und gar unschuldig. Die Ironie an der ganzen Sache war: Mama hatte das alles selbst initiiert, als sie im Krankenhaus war. Offenbar hatten die Ärzte sie hypnotisiert oder unter Drogen gesetzt, und sie hatte zu allem Ja und Amen gesagt – anders kann ich mir das nicht erklären.
    »Medikamentenkontrolle« nannte sich diese Maßnahme, die auf ärztliche Verordnung von der Krankenkasse bezahlt wurde: Morgens und abends kam die Caritas-Schwester und reichte Mama aus einem vorbereiteten Kästchen, das immer bei ihr auf dem Tisch stand, ihre Medikamente (auch die unaussprechlichen). Damit es keine Probleme mehr wie unlängst gäbe. Sogar Psychopharmaka gegen die Ängste und die Schwermütigkeit bekam Mama nun (die wirkten nur leider noch nicht). Die Besuche dauerten immer nur ein bis zwei Minuten, und wenn man ausgehen wollte, konnte man einfach telefonisch absagen und die Mittel selbstständig schlucken. Keine große Sache. Mama tat allerdings, als wäre es die Hölle.
    Eigentlich sollte sie sogar eine richtige Pflege bekommen und eine sogenannte »Pflegestufe« bei der Krankenkasse beantragen. Sie tat sich auch wirklich mit manchen Dingen schwer, zum Beispiel mit dem Waschen, weil sie nicht mehr so leicht über den Badewannenrand steigen konnte. Im Krankenhaus sagte man, sie solle sich eine Vorrichtung einbauen lassen, mit der sie sich im Sitzen duschen könnte, unterstützt von einer Pflegerin, und Mama willigte ein. Ich bestellte beides dann jedoch ganz schnell ab. Es war schon schlimm genug, dass Theresa und Konsorten Mama die Tabletten verabreichten. Dass sie zuließ, dass jemand sie mit einem Waschlappen bearbeitete, konnte sich aber keiner von uns auch nur im Entferntesten vorstellen. Ebenso wenig wie den Einbau einer Alte-Leute-Badevorrichtung, die dem Lebensinhalt Jünger-Aussehen selbstredend so diametral entgegenstand wie nur irgendwas. »Wenn wir das machen, dann wäscht sie sich nie wieder. Dann stürzt sie sich nämlich aus dem Badezimmerfenster«, sagte meine Schwester.
    »Nicht, ohne die Pflegerin vorher mit dem Waschlappen zu erwürgen«, sagte ich.
    Darum ließen wir das alles erst mal sein.
    Mama tat derweilen bei unseren Besuchen, als wäre alles ganz normal. Sie kochte Kaffee, sie knuddelte die Kinder, sie erzählte Geschichten aus ihrer Jugend, sie jammerte über ihren Rücken. Eher zufällig fiel uns auf, dass nicht alles ganz rund lief.
    »Na, Mama, wie geht’s denn Jule?«, fragte ich eines Tages zum Beispiel. Jule ist ihre Freundin aus Münster und ebenfalls Mitglied im Club Jünger-Aussehen. Wenn die beiden am Telefon nicht gerade Durchhalteparolen wie »Lippenstift statt Treppenlift« oder »Raus mit den Rollatoren« intonierten, dann ging es um Jules böse Schwiegertöchter. Mama genoss diese täglichen Telefongespräche normalerweise sehr.
    »Och, weiß nicht«, erwiderte sie nun aber plötzlich. »Ich habe schon länger nicht mehr mit Jule geredet.«
    »Ach, sie ist doch nicht

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