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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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über die Zukunft machen. Das wollen sie aber partout nicht.
    Ein einfaches Appartement bei uns in der Nähe wäre unseren Omas übrigens viel zu popelig: Derzeit lebt meine Mutter in einer 95 Quadratmeter großen Wohnung – ganz allein. Das ist aber noch gar nichts gegen meine Schwiegermutter: Ömi residiert in einem einstöckigen, über zweihundert Quadratmeter großen Haus mit tausend Quadratmeter Grundstück. Es sei ihr vergönnt. Wenn sie sich wenigstens jemanden für die Gartenarbeit nehmen würde.
    Ömi ist eine Frau, die nie klagt oder sich beschwert. Deswegen würde sie auch nie zugeben, dass ihr das Rasenmähen schwerfällt. Also engagiert sie auch niemanden dafür.
    Allerdings hat der Arzt ihr das Rasenmähen verboten, wegen dem Herzen, und damit sie es nicht trotzdem tut und dabei tot umfällt, fährt ihr Sohn – mein Mann – regelmäßig zu ihr zum Rasenmähen. Oder, je nachdem: zum Schneeschippen, Laubrechen, die Dachrinne frei machen, die Fensterrahmen abschleifen, den Zaun streichen, das Moos von den Steinplatten auf der Terrasse kratzen, Unkraut jäten, Bäume zurückschneiden. Samstags ist er eigentlich immer von morgens bis abends dort beschäftigt. Wenigstens im Haus nimmt Ömi professionelle Hilfe in Anspruch: Manchmal kommt eine Putzfrau.
    Mama wollte nicht einmal das, obwohl ich ihr immer wieder anbot, ihr meine eigene Putzfrau vorbeizuschicken und auch noch zu bezahlen. Aber nein! Bloß keine »fremden Menschen« ins Haus lassen, wie Mama es immer nannte. Nun kamen täglich fremde Menschen ins Haus, es war ein ständiges Kommen und Gehen. Klar, dass sie das nicht besonders toll fand.
    Erst wenn der Pflegedienst abends gegangen war, begann Mamas richtiges Leben: Da schaltete sie endlich den Fernseher an. Doch weil sie für den Pflegedienst immer schon um fünf Uhr morgens aufstand und sich zurechtmachte (vielleicht in der Annahme, irgendeine der Schwestern könnte aus Versehen mitten in der Nacht erscheinen), schlief sie umgehend auf dem Sofa ein. Es war jämmerlich.
    Und das alles nur wegen täglich insgesamt vier Minuten Pflegedienst! Welchen sie natürlich überhaupt nicht nötig hatte, das glaubte Mama felsenfest. Dass sie verwirrt ins Krankenhaus gekommen war und vergessen hatte, wie viele Tabletten sie täglich schlucken musste, hatte sie verdrängt. Ebenso, dass sie dehydriert gewesen war.
    »Das kann unmöglich sein!«, behauptete Mama mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete. »Ich trinke immer vier Liter Wasser täglich. Immer! Allein schon wegen der Haut!«
    Was blieb mir da noch zu sagen? Nichts. Doch den Pflegedienst bestellte ich trotzdem nicht ab, sicher ist sicher.
    Mit der Zeit stellte sich dann heraus, dass Mama gar nicht so vergesslich war, wie sie tat: Es war ihr schon klar, dass sie manchmal das Trinken vergaß. Jetzt achtete sie immerhin darauf, dass das nicht mehr vorkam. In der Küche lag ein kleiner Zettel, darauf hatte sie eine Strichliste angelegt. Für jedes Glas Wasser ein Strich. Mit diesem Zettel fuchtelte sie dann immer vor mir herum, wenn ich vorbeischaute: »Da, guck mal, vier Gläser heute schon. Da! Und das ist der Zettel von gestern. Ich trinke immer ausgesprochen viel Wasser, denn das ist das beste Schönheitsmittel. Hier kannst du es ganz genau sehen!«
    Nicht wirklich: Auf dem Zettel war kaum etwas zu erkennen, denn es handelte sich dabei nur um ein winziges Blättchen, und die Strichliste darauf war mit hauchdünnem Bleistift winzig winzig hingekrakelt. Überall in der Wohnung fanden sich solche Mini-Zettel. Außerdem gab es dazu noch ihren kleinen Kalender, in dem sie sich ihre Notizen machte. »Klein« traf es genau: Ungefähr vier mal fünf Zentimeter maß das Büchlein. Ich wunderte mich immer wieder, aus welchem Zwergen-Schreibwarenladen sie alljährlich diese Mikro-Kladden bezog. Wobei noch nicht einmal jeder Wochentag eine eigene Seite besaß, sondern sich drei Wochentage eine Seite teilen mussten. Da malte sie dann mit hauchfeinem Bleistift hinein: »Nur noch 178 Captopril! Dringend neues Rezept anfordern!!!«. Oder: »Theresa heute drei Minuten zu spät!«. Und solche Sachen.
    Selbstredend brachte ich gleich einen Riesenkalender herbei: unübersehbar feuerrot gebunden, DIN A4, jeder Tag eine Doppelseite. Ich kaufte gut sichtbare Filzschreiber und bunte Marker, und meine Schwester schaffte zusätzlich einen übersichtlichen Wochenplaner an, damit Mama die ganze Woche gut im Blick hatte und nicht durcheinanderkam, und einen

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