Lippenstift statt Treppenlift
krank? Oder hattet ihr Streit?«
»Nö, aber …«, sie senkte die Stimme, »… ich habe ja jetzt keine Zeit mehr zu telefonieren, weil DIE immer kommen.«
»Aber Mama, die Pflegerinnen sind doch immer nur ein paar Minuten da! Da kannst du doch telefonieren, so lange du willst!«
Aber sie wollte nicht.
Dann fanden wir heraus, dass sie gar nicht mehr aus dem Haus ging. Nicht ein einziges Mal war sie nach dem Krankenhausaufenthalt alleine draußen gewesen, um DIE nicht zu verpassen. Weil Lisa und ich wechselseitig für sie einkauften, war uns das zuerst nicht aufgefallen. Sie sah auch nicht mehr fern, sie hörte keine Hörspiele, keine Musik. Alles, um das Klingeln nicht zu überhören. Schließlich wurden ihre Rückenschmerzen wieder schlimmer, wegen dem ständigen Sitzen auf dem harten Holzstuhl im Flur, und so kam alles heraus.
»Die alten Leute brauchen einfach ein bisschen, bis sie sich an den Pflegedienst gewöhnt haben«, sagte die Pflegedienstleiterin am Telefon. Mit »ein bisschen« meinte sie Tage, vielleicht Wochen. Allerdings nicht Monate.
»Wissen Sie – meine Mutter sitzt den halben Tag auf einem harten Stuhl im Gang«, sagte ich. »Nur, um das Läuten des Pflegedienstes nicht zu überhören.« So etwas war der Pflegedienstleitung allerdings noch nie untergekommen.
»Um Himmels willen!«, stöhnte sie auf. »Das ist doch völlig unnötig! Wenn ihre Mutter die Türglocke überhört, dann rufen wir sie eben einfach vom Handy aus an, damit sie auf den Türöffner drückt!«
»Das können SIE ihr ja klarmachen!«, erwiderte ich. Uns war es nämlich nicht gelungen.
Schließlich stellte sich heraus, dass Mama fürchtete, der Pflegedienst könnte einfach ihre Wohnungstür aufbrechen, wenn sie nicht ganz schnell öffnete. Sie verwechselte nämlich ständig die Caritas, bei der wir die Pflege gebucht hatten, mit dem Johanniterbund, bei dem wir einen Notfall-Pieper für sie angefordert hatten.
Zwar ist es so, dass auch die Johanniter keine Türen aufbrechen würden, auch im Notfall nicht, denn wir hatten sie mit einem Wohnungsschlüssel ausgestattet. Aber das hatte Mama irgendwie nicht so richtig kapiert. Außerdem steckten für sie alle unter einer Decke: DIE . Ihre Feinde.
» DIE machen mich ganz krank!«, sagte sie. »Du musst sie wieder abbestellen! Un-be-dingt!«
Aber da biss sie auf Granit. Ich setzte mich zu ihr, schaute ihr tief in die Augen und sagte: »Mama, jetzt müssen wir mal ein ernstes Wort miteinander reden: Wenn du weiter zu Hause wohnen bleiben willst, dann musst du ab jetzt ein bisschen Hilfe akzeptieren. Und wenn du jetzt oder später lieber in eine Einrichtung für ältere Leute willst, dann sollten wir dich bald mal auf ein paar Wartelisten setzen lassen. Oder wie hast du dir eigentlich deine Zukunft vorgestellt?«
»Wie, was?!«, blaffte sie.
»Na, deine Zukunft. Man wird ja nicht jünger. Was hast du so geplant, für die nächsten Jahre?«
Natürlich kannte ich die Antwort längst. Sie lautete: nichts. Was übrigens genau dem entsprach, was meine Schwiegermutter Ömi geplant hatte. Als bestünde zum Planen auch gar kein Grund. Manchmal packte mich deshalb eine Riesenwut, und ich dachte: Wusstet ihr denn nicht, dass ihr mal alt werden würdet? War das nicht in irgendeiner Form zu erahnen oder vorauszusehen? Wie kann es sein, dass ihr so vollkommen davon überrascht worden seid?
Man könnte einwenden, dass niemand dieser Tatsache gern ins Auge blickt, doch so viel Verdrängung, wie sie in unserer Familie stattfindet, ist schon außergewöhnlich. So kaufte sich meine Mutter beispielsweise mit fast sechzig noch ihre Eigentumswohnung im dritten Stock ohne Aufzug. 42 Stufen sind es bis zu ihrer Wohnungstür – das ist wirklich das krasse Gegenteil von barrierefrei. Natürlich könnte sie ausziehen, ihre Wohnung vermieten und beispielsweise eine Erdgeschosswohnung beziehen, aber solange auch nur ein Hauch von Energie in ihr ist, wird sie das rigoros verweigern, so viel ist klar. Es kommt noch die Zeit, da werden wir sie die 42 Stufen hinuntertragen müssen, wenn sie mal frische Luft schnappen will.
Es gibt doch auch Leute, die sich beizeiten freiwillig in Seniorenresidenzen anmelden! Die eine Alten- WG gründen! Die sich erkundigen, was Pfleger kosten! Man könnte auch in ein Appartement im selben Haus der Kinder ziehen, dann müssten die wenigstens nicht ständig durch die halbe Stadt fahren, um den Omas zu helfen. Man könnte sich einfach mal zur Abwechslung ein paar Gedanken
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