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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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großen Spiralblock kaufte sie auch noch. Mein Sohn freute sich dann am Jahresende sehr über die Mengen an völlig unberührtem Malpapier, denn leider rührte Mama die übersichtlichen Kalender nicht ein einziges Mal an, sondern vergrub sie lediglich unter Hunderten mikroskopischen, eselsohrenverzierten Zettelchen und Blättchen mit kaum entzifferbaren hauchdünnen Bleistifthieroglyphen darauf, in denen sie unablässig kramte und blätterte, sodass es ständig leise rauschte wie in einem Laubwald der Vergesslichkeit. Manchen Leuten ist eben nicht zu helfen!
    Vor dem Krankenhausaufenthalt hatte Mama sich nicht nur selbstständig darum gekümmert, ihre Medikamente einzunehmen, sondern auch darum, die Rezepte dafür beim Arzt zu besorgen. Das lief schon seit einigen Jahren nicht mehr besonders gut: Der Gedanke daran, dass es mal wieder Zeit für ein Päckchen Amlodipin oder Captopril oder was auch immer war, beanspruchte sie immer so, dass sie sonst gar nichts mehr erledigen konnte. Einmal zum Beispiel ging sie trotz fürchterlicher Zahnschmerzen nicht zum Zahnarzt, weil sie ja schon wegen der Rezepte zur Tremel gehen musste. Dabei lag die Praxis des Zahnarztes gar nicht weit entfernt von der Hausarztpraxis, sie hätte also beides an nur einem Nachmittag erledigen können. Doch solche Multitasking-Aufgaben überforderten sie total.
    Erst Arztbesuch. Am nächsten Tag Apotheke. Dann wieder Apotheke, um das bestellte Medikament abzuholen. Dann mindestens einen Tag durchatmen und sich erholen. Und dann erst mal beim Zahnarzt anrufen und einen Termin vereinbaren. So lief das. Schließlich war die Backe bereits ganz dick.
    Auch die Darreichungsformen der Medikamente machten meiner Mutter Probleme: Weil Ärzte und Apotheker heute dazu angehalten werden, stets das Produkt des gerade günstigsten Anbieters an die Patienten abzugeben, bekam Mama ihre Mittel jedes Mal von anderen Herstellern. Das machte sie geradezu fuchsteufelswild, denn sie wollte ihre Medikamente viel lieber in immer den gleichen Verpackungen von denselben Firmen. Warum? Einfach so, weil sie es eben wollte. Darum diskutierte sie stundenlang mit den Apothekern und behauptete, sie sei gegen die Produkte aller anderen Hersteller allergisch und bestehe auf die Ur-Darreichungsform, die sie früher immer bezogen habe. Schließlich hatte sie sich mit den Angestellten in allen Apotheken ihrer Nachbarschaft überworfen und musste für jedes Rezept extra mit der U-Bahn in die Innenstadt fahren, wo sie sich weiter herumzankte.
    Natürlich war sie gar nicht allergisch. Aber das zählte für sie nicht.
    »Du verstehst das nicht!«, brauste sie auf: » BISHER war ich nicht allergisch. Aber woher soll ich wissen, dass ich auf die Produkte dieser neuen Firma nicht allergisch bin? Ich habe sie doch noch nie ausprobiert!«
    »Aber es ist doch immer genau der gleiche Wirkstoff!«, wagte ich einmal auszurufen, bevor ich von ihrem allerbösesten Blick getroffen wurde. Logik und gesunder Menschenverstand zählten in Mamas Universum nämlich leider nicht.
    Den Tabletten, die Theresa und die anderen ihr aus dem vorbereiteten Medikamentendöschen gaben, sah man den Hersteller nicht an, das war ein Vorteil am Pflegedienst, fand ich. Mama schluckte sie einfach, und es kam zu keiner einzigen allergischen Reaktion. BISHER zumindest. Und wenn ein Präparat so langsam zur Neige ging, hinterließ Theresa, die für die Wocheneinteilung zuständig war, mir rechtzeitig einen handgeschriebenen Zettel in dem großen roten Ordner, der jetzt immer auf einem Bord im Wohnzimmer meiner Mutter lag.
    Kaum war die Pflegerin zur Tür hinaus, hatte ich Mama dann immer schon an der Strippe: »Du musst heute noch zu der Tremel, die Medizin geht aus!!!«
    »Wie viele Tabletten sind denn noch da?«, fragte ich dann, und meistens waren es noch genug für die nächsten zwei Wochen. Trotzdem besorgte ich die Mittel schon weit im Voraus, damit Mama nicht täglich anrief und nachfragte, ob ich endlich bei der Tremel gewesen sei.
    Einmal gab ich versehentlich zu, dass ich gar nicht vorhatte, höchstpersönlich bei der Hausärztin vorbeizuschauen, sondern dass ich die Rezepte immer per Internet anforderte und sie auf dem Postweg erhielt. Schwerer Fehler! Heftiges Hyperventilieren!
    »Aber, aber, aber – es wäre mir doch lieber, wenn du persönlich zu der Tremel gehst, nicht dass was schiefläuft und ich ohne Tabletten dastehe!«
    »Keine Sorge, so machen die Tremel und ich das jetzt schon ganz lange, es wird nicht

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