Lippenstift statt Treppenlift
schiefgehen!«
»Aber, aber, aber – trotzdem wäre es mir lieber! Nicht dass was schiefgeht!!!«
»Es wird nichts schiefgehen!«, sagte ich.
»Aber, aber, aber …«
Und so weiter und so fort.
Eines Tages rief ich vormittags bei meiner Mutter an, um zu fragen, wie es so geht, da waren laute, aufgeregte Stimmen im Hintergrund zu vernehmen, und sie sagte:
»Ich rufe dich in einer halben Stunde zurück, gerade sehe ich so eine interessante Diskussion im Fernsehen!«
Da fiel mir ein Riesenstein vom Herzen, denn auf diese Weise erfuhr ich, dass Mama ihr ganz normales Leben wieder aufgenommen hatte und sich traute, einfach den Fernseher einzuschalten.
Ein anderes Mal war sie noch ungeschminkt in Nachthemd und Bademantel, als ich ihr gegen acht Uhr früh etwas vorbeibrachte. »Ich kann mich ja schließlich nicht täglich zu nachtschlafender Zeit schon zurechtmachen, nur weil DIE kommen«, sagte sie mit Trotz in der Stimme.
»Hat doch auch niemals jemand verlangt«, sagte ich, aber sie hörte gar nicht zu.
Jedenfalls tauchte auch endlich wieder Jule in Mamas Leben auf: »Stell dir vor, Jules Schwiegertochter – die von dem jüngeren Sohn, der in London lebt –, die hat sich eine Handtasche für tausend Euro gekauft. Tausend Euro! Verrückt, oder?«, erzählte Mama kopfschüttelnd.
»Das freut mich!«, sagte ich, aber ich meinte natürlich etwas ganz anderes: Ich freute mich, dass Mama wieder mit Jule stundenlang am Telefon plauderte.
Man möchte meinen, dass meine Mutter die Pflegerinnen, diese Eindringlinge in ihren altgewohnten Alltag, regelrecht hasst. Lange Zeit dachte ich das. Dann stellte sich heraus, dass sie prima mit den Damen auskommt. Ich weiß, das klingt paradox und völlig widersprüchlich zu ihrem Verhalten, aber es ist genau so: Mama will die Pflegerinnen loswerden und leidet total unter der Pflege. GLEICHZEITIG mag sie sie richtig gern und freut sich immer auf sie. Am besten versteht sie sich mit Theresa und vermisst sie, wenn sie keinen Dienst hat.
Theresa ist eine quirlige und sehr joviale Person und hat immer Scherze auf den Lippen. Sie ist sozusagen der Witzbold der Caritas. »Stell dir vor, Theresa sagt Bleifisch zum Bleistift. Bleifisch! Hihi!«, kicherte meine Mutter beispielsweise eines Tages. Mama sagt nun auch Bleifisch. Sie sagt plötzlich auch »Tschüssikowski« und bezeichnet Dinge, die sie lächerlich findet, als »Kinderfasching«. Das kommt alles von Theresa. Mit Theresa hat Mama viel Spaß.
Trotzdem ruft sie andauernd an, um sich bei mir über den Pflegedienst zu beschweren. Und zwar grundsätzlich zu nachtschlafender Zeit. Das gehört mittlerweile zu meinem Alltag wie Kaffeetrinken oder Frühstücken.
»Die Oma!«, rufen die Kinder, wenn es vor acht läutet – und zwar bevor irgendwer den Hörer abgenommen hat. »Theresa war schon wieder nicht da!«
Oma und Ömi – im Doppelpack noch fröhlicher!
K einer von uns wird jemals das vergangene Weihnachtsfest vergessen, besonders unsere Omas nicht: Sie haben sich mal wieder großartig verstanden. Nach Gänsebraten und Kaffee legten sie die Beine hoch und steckten die Köpfe zusammen. Das war auch nötig, sie hatten nämlich beide kein Hörgerät.
Ömi begann. Es ging um ihr Lieblingsthema, die Reichen und Adeligen in ihrem Bekanntenkreis, denn Ömi hat ihre Jugend in einem Elite-Internat verbracht und daher ziemlich viele davon kennengelernt. Das klang so:
»Meine alte Schulfreundin Sophie, von der ich dir schon erzählt habe, kam vor Kurzem vorbei. Der Lodenmantel, den sie trug, den besitzt sie schon seit dreißig Jahren, das weiß ich gewiss. So bescheiden! Dabei sind die Familiengüter Hunderte von Millionen wert!«
Mama nickte verständnisinnig. Dann begann sie, von etwas vollkommen anderem zu sprechen: »Vor zwei Jahren auf der Weihnachtsfeier der Pfarrgemeinde sind alle Nachbarinnen im Anschluss ins Pfarrhaus zum Kaffee gegangen – nur mich haben sie vergessen. Unerhört, oder?« Mama schwadroniert gern darüber, wie miserabel sie von aller Welt behandelt wird und wie schlecht es ihr im Allgemeinen geht – das ist wiederum ihr Lieblingsthema. »Dieses Jahr bin ich gleich zu Haus geblieben«, fuhr sie fort. »Ich hatte sowieso derartige Schmerzen im Bein!«
Die beiden lächelten sich liebevoll zu. Dann ergriff wieder Ömi das Wort: »Trotz des ganzen Geldes lebt Sophie, als müsse sie jeden Pfennig dreimal umdrehen. Fleisch essen sie im Schloss nur zweimal wöchentlich, wegen der Kosten. Hülsenfrüchte sind
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