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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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durchgeschickt und musste wieder Laut geben, sobald sie sie hörte, denn Frau Wolf wollte die Schnelligkeit von Mamas Reaktion auf die Geräusche zeitgleich in ihrem Computer notieren. Dazu musste sie auf den Monitor blicken und konnte nicht auf Mama schauen. Mama gab aber nicht Laut. Mama hob die Hand. Dann winkte sie. Sie streckte den Zeigefinger. Sie nickte. Sie machte alles Mögliche, aber nie das, was man von ihr verlangte.
    »Bitte, geben sie Laut«, flehte Frau Wolf. »Bitte!«
    Die Tests dauerten sehr, sehr lange.
    Zu guter Letzt bekam Mama eine knallblaue Paste in die Ohren geschmiert, um einen Abdruck ihrer Ohrmuscheln zu nehmen, und dann waren wir für diesen Tag entlassen.
    Im Wagen war Mama sehr erschöpft und ausgesprochen aufgebracht: »Findest du nicht, die Kleine (sie meinte Frau Wolf) hätte wegen der Farbe fragen können?!«
    »Welcher Farbe?«, wunderte ich mich.
    »Blau! Das passt doch wirklich zu gar nichts!«, beschwerte sich Mama. Da wurde mir klar, dass sie dachte, das Hörgerät würde die gleiche Farbe haben wie die Paste, mit der der Ohrabdruck erstellt wurde.
    »Aber Mama – dein Hörgerät wird doch nicht blau!«, sagte ich.
    »Ach, meinst du!«, erwiderte sie zickig und schickte mir wieder einen ihrer Kugelblitz-Blicke. Sprich: Sie glaubte mir kein Wort.
    In der Woche darauf fanden wir morgens wieder einen Parkplatz direkt vor dem Hörgeräteakustiker, aber diesmal warnte ich Mama schon, als ich den Lenker zum Einparken einschlug, bloß nicht wieder unvermittelt die Autotür aufspringen zu lassen. Auch das war wieder falsch: Als ich den Motor abschaltete, hatte sie meine Warnung bereits vergessen und … genau! Die Radfahrerin konnte gerade noch ausweichen.
    Manchmal vergisst Mama, dass sie nicht gut hört, beziehungsweise: Vielleicht ist es eher so, dass sie vergisst, dass andere besser hören als sie. Jedenfalls spricht sie mitunter über andere Leute, als könnten diese das gar nicht verstehen. Heute war so ein Tag.
    Im Wartezimmer saß bereits ein weißhaariger Herr in einem altmodischen Tweed-Anzug, der an Parkinson zu leiden schien: Ein Zittern seiner Hände ließ sich nicht übersehen.
    »Siehst du, der Mann da!«, brüllte Mama. »Entsetzlich, nicht wahr? ENT - SETZ - LICH !«
    »Psssssst«, machte ich, aber das hörte Mama wieder mal nicht. » ENT - SETZ - LICH ! Der arme Mann!!!« Zum Glück schien der alte Herr sehr schwerhörig zu sein, denn er zeigte keine Reaktion.
    Dann kam Frau Wolf herein, grüßte und sagte: »Dauert nur noch einen Moment!«
    »Ist das die Kleine vom letzten Mal?«, posaunte Mama, als Frau Wolf noch nicht zur Tür heraus war. Kurz: Der Tag fing schon gut an.
    Diesmal lautete die erste Wortreihe so: »Maus, Schmaus, Graus, raus, schlau, grau, mau.« Mama schlug sich ganz gut. Das lag daran, dass sie jetzt bereits eine Art provisorisches Hörgerät eingesetzt bekommen hatte, das in der Zwischenzeit angefertigt worden war. Damit verstand sie so einiges. Frau Wolf war zufrieden.
    »Sie verstehen rund siebzig Prozent mit dem Gerät. Das hätte ich nicht erwartet. Das ist sehr gut«, sagte sie in ihrer sehr ruhigen Art.
    »Warum nur siebzig? Warum nicht alles?«, polterte Mama los.
    »Das liegt daran, dass das Gehör schon sehr geschädigt ist.« Eben weil Mama so lange mit dem Hörgerät gewartet hatte.
    Vielleicht lag es an dieser Nachricht, die für Mama absolut frustrierend klang. Vielleicht gab es auch gar keinen rationalen Grund. Jedenfalls: Urplötzlich wollte sie das Hörgerät nun doch nicht mehr.
    »Wissen Sie, Fräulein, ich habe sehr große Angst!«, sagte sie. »Ich möchte es mir noch mal überlegen.«
    »Aber wovor haben Sie denn Angst?«, fragte Frau Wolf erstaunt.
    »Ich weiß nicht! Ich habe eben einfach Angst!«, sagte Mama (nein: tatsächlich schrie sie fast). »Vielleicht komme ich mit dem Gerät nicht zurecht!«
    »Aber dann helfen wir Ihnen doch«, sagte Frau Wolf. Ich sagte gar nichts. Ich hatte nämlich überhaupt keine Lust auf einen erneuten Kugelblitz-Blick – noch dazu vor anderen Leuten – und gab vor, ganz ultradringend telefonieren zu müssen. Ich musste raus! Und zwar sofort!
    Direkt neben dem Hörgeräteakustiker ist ein kleines Café, da holte ich mir einen Becher to go und stellte mich damit raus an die frische Luft. Wahrscheinlich wäre ein Beruhigungsmittel besser gewesen: Ich hatte das Gefühl, die Sitzungen in dem Hörgeräteladen mit meiner unberechenbaren Mutter und der flüsternden Ohr-Expertin nicht mehr lange

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