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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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zu ertragen. Was wollte ich überhaupt hier? Wozu war meine Anwesenheit gut? Mama machte sowieso nur, was sie wollte, nämlich jetzt vielleicht doch kein Hörgerät kaufen. Außerdem: Wahrscheinlich gefährdete ich sie und unschuldige Dritte durch meine Begleitmaßnahme nur unnötig, weil ich Mama mit dem Wagen herbrachte und auf diese Weise zuließ, dass sich die Autotüre in ihren Händen zu einer gefährlichen Waffe verwandelte. Vielleicht sollte ich in Zukunft einfach zu Hause bleiben und sie machen lassen, egal, was dabei herauskam. Ja, genau: Vielleicht sollte ich jetzt einfach in mein Auto steigen und mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Das war mit Sicherheit die beste Idee.
    Aber natürlich habe ich das dann wieder einmal nicht getan. Stattdessen bin ich zurück zu Mama in den Hörgeräteladen und habe mich anschnauzen lassen: »Wo warst du?! Wir müssen doch jetzt das Gerät aussuchen!«
    Das Gerät also: Mittlerweile hatte Frau Wolf – der es irgendwie gelungen war, meine Mutter zu beruhigen – einen Katalog hervorgekramt, vor dem saßen die beiden nun. Es ging bei ungefähr vierhundert Euro los – was die Zuzahlung betraf. Das waren die Geräte, die Mamas Hals-Nasen-Ohren-Arzt empfohlen hatte.
    »Die sind wirklich ausreichend, wenn Sie überwiegend Gespräche unter vier oder sechs Augen führen«, bestätigte Frau Wolf.
    »Kann ich damit alles hören?«, fragte Mama.
    »Es ist so: Damit können Sie besser hören, wenn Sie sich in einem Raum mit wenigen Personen befinden«, sagte Frau Wolf.
    »Und wenn viele Leute da sind?«
    »Dann eignet sich solch ein Gerät nicht so gut. Aber Sie müssen natürlich überlegen: Wie oft kommt das in Ihrem Alltag vor, dass Sie mit so vielen Menschen zusammen sind?«
    »Und wie ist es damit?«, fragte Mama und zeigte in der Spalte im Katalog ganz nach unten.
    »Dies ist ein sehr aufwendiges Gerät. Es wird oft Kindern angepasst, die trotz der vielen Nebengeräusche im Schulunterricht alles verstehen sollen. Oder jüngeren Menschen, die im Beruf stehen«, erläuterte Frau Wolf.
    »Also ein gutes Gerät?«, fragte Mama.
    »Wenn Sie so wollen: Ja, das ist schon sehr gut.«
    »Dann nehme ich das, bitte!«, sagte Mama.
    »Aber Mama, die Zuzahlung beträgt zwölftausend Euro! Dein Arzt hat gesagt, du brauchst gar kein derart gutes Gerät«, erschrak ich.
    »Warum soll ich kein gutes Gerät haben?!?«, empörte sich Mama. »Ich will doch gut hören können!«
    »Gut hören können Sie auch mit dem anderen Gerät«, sagte Frau Wolf. »Nur eben nicht in einer Runde mit vielen Leuten, darum …«
    »Also dann bleibe ich dabei: Ich nehme den besten Apparat, den Sie haben!«, sagte Mama.
    Nach langem Ringen handelten wir sie schließlich herunter, auf ein Hörgerät, bei dem nur eine Zuzahlung von 1200 Euro zu leisten war. Dafür musste man daran die Lautstärke nicht eigenhändig regulieren, sondern das passierte automatisch. Das war’s wert. Aber muss ich betonen, dass Mama bereits im Wagen darüber klagte, dass sie nun soooo viel Geld zuzahlen musste – obwohl sie kurz davor bereit gewesen war, das Zehnfache auszugeben?
    Manchmal, wenn ich meine Mutter zu all ihren Terminen begleite, ist mir das ein wenig peinlich. Nicht, wenn ich das erste Mal irgendwo dabei bin. Da reagieren alle noch ganz normal auf mich. Aber wenn ich meine Mutter ein ums andere Mal in eine Praxis begleite, dann kommen die Leute offenbar ins Grübeln und stimmen regelmäßig leicht belustigte Kommentare an, etwa wie: »Na, die Damen, wieder zusammen unterwegs?« Da Mama ja jünger aussieht und auch ihre Demenz noch nicht so stark ausgeprägt ist, dass sie gleich auffallen würde, wirkt sie nämlich auf den ersten Blick gar nicht so, als ob es einer Begleitung bedürfe. Darum kommt den Leuten meine Anwesenheit komisch vor. Als wäre ich eine schrullige alleinstehende Frau, die immer nur mit ihrer alten Mutti zusammen ist. Außerdem führe ich den gleichen Nachnamen wie Mama. Das verstärkt natürlich diesen Eindruck. Ein Orthopäde hat mich vor einiger Zeit sogar mal geradeheraus gefragt: »Sind Sie denn gar nicht verheiratet?« Das war natürlich unverschämt von ihm, denn es geht ja niemanden an, wie ich lebe.
    Trotzdem würde ich manchmal, wenn ich mit Mama unterwegs bin, am liebsten ein Schild hochhalten, auf dem steht: »Es ist alles ganz anders, als es aussieht: Ich habe zwei Kinder, eine Beziehung, einen Job und soziale Kontakte! Ich habe ein Leben!« Aber das wäre natürlich mehr als

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