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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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schlechtes Gewissen. Also will ich doch mit zum Zahnarzt. Ich bitte eine Kollegin, bei einem Termin für mich einzuspringen, und bespreche außerdem mit dem Chef, dass ich an dem Tag morgens früher ins Büro kommen werde, damit keine Arbeit liegen bleibt.
    »Mama, ich kann dich nun doch am Montag zum Zahnarzt begleiten!«, verkünde ich freudig am Telefon. »Um viertel vor vier bin ich da, dann schaffen wir es mit dem Auto locker bis vier Uhr dort hin!«
    »Besser du kommst um halb vier. Und keine Minute später!«, sagt sie.
    »Findest du nicht, dass die Oma im Gegenzug auch netter zu mir sein könnte?«, frage ich meine Tochter. »Sie ist manchmal alles andere als freundlich. Sie kommandiert mich ganz schön herum!«
    »Mama!«, sagt meine Tochter im gleichen Tonfall, in dem sie auch »Dummkopf« sagen würde. »Das ist eine ALTE FRAU !«
    Na dann! Alter ist offenbar der Freibrief für schlechtes Verhalten per se. Interessanterweise war meine Mutter nie autoritär und fordernd uns gegenüber, als wir noch Kinder waren, und das ist sie auch bei den Enkeln nicht, sonst würden die nicht mit einer solchen Affenliebe an ihr hängen. Sie ist nur bei erwachsenen Kindern unausstehlich. Und je älter Mama wird, desto mehr verstärkt sich diese Tendenz.
    Sie ist damit nicht die Einzige: Die Eltern meiner Kollegin sind noch einen ziemlichen Tick schlimmer. Ihre Geschichte geht so:
    Als ihre Eltern gebrechlich wurden, kündigte die Kollegin eines Tages ihre Stadtwohnung und zog zurück zu ihnen aufs Land, wo sie zwei Zimmer im Dachgeschoss ihres Hauses bezog. Die Kollegin ist alleinstehend, aber trotzdem war das ein ziemlicher Schritt: Gerade als Alleinstehende genoss sie das Leben in der Großstadt. Aber irgendjemand musste sich ja um die alten Leute kümmern, sagte sie, und ihr Bruder lebt leider mit seiner Familie in einem anderen Bundesland.
    Seither (es sind nun über zehn Jahre) pendelt meine Kollegin morgens und abends je über eine Stunde zur Arbeit. Das ist anstrengend und kostet auch viel Geld, was besonders ins Gewicht fällt, weil die Eltern meiner Kollegin nur sehr wenig Rente bekommen: Sie muss sie auch finanziell unterstützen.
    Man möchte meinen, diese Eltern sind glücklich, eine Tochter zu haben, die sich derart vorbildlich um sie kümmert, aber das krasse Gegenteil ist der Fall: Die beiden alten Leute versuchen gerade, ihre Tochter zu enterben. Denn meine Kollegin weigert sich nun, das Treppenhaus des Häuschens, in dem die drei leben, renovieren zu lassen. Nicht, dass es baufällig wäre, die Eltern möchten es nur renovieren lassen, weil es ihnen so, wie es ist, nicht mehr gefällt. Sie lasse alles verkommen, schimpfen die Eltern. Dabei kann sich meine Kollegin gar keine Renovierungsmaßnahmen leisten, denn vor ein paar Jahren erst musste sie die komplette Fassade des Hauses ihrer armen Eltern erneuern lassen, und das kostete so viel Geld, dass sie sich bis zur eigenen Rente verschuldete. Aber für ihre Eltern ist sie trotzdem die Böse, und nicht etwa der Bruder in Bremen, der nur einmal im Jahr zu Besuch kommt.
    Vielleicht sind die Kinder die beliebtesten, die gar nichts für ihre Eltern tun, wer weiß das schon. Aber es ist müßig, darüber nachzudenken.
    Auf jeden Fall ist es so: Was auch immer die Omas und Opas sich wünschen (bzw. einfordern): Es muss auf der Stelle erledigt werden. Erstaunlich ist dabei, dass meine Mutter bei ihren zeitlichen Forderungen (jetzt, sofort, heute, gleich, schnell) nach wie vor sehr konkret ist und dass sie mit den Uhrzeiten auch (noch) überhaupt nicht durcheinanderkommt – ganz anders, als man das von Menschen mit Demenz so hört.
    Allerdings scheint sie das ziemlich viel Kraft und Disziplin zu kosten: Sie muss über alles extrem lange nachdenken und sich gründlich vorbereiten. Deswegen steht sie morgens sehr früh auf, um sich mental auf die Herausforderungen des Rentner-Daseins (zum Beispiel das Betätigen des Türöffners, wenn es klingelt) einstellen zu können. Das ist relativ neu bei ihr, noch unlängst lag sie gern etwas länger im Bett – so bis neun oder zehn. Doch seit sie die Medikamentenkontrolle ins Haus bekommt, die ich bereits beschrieben habe, ist alles anders: Sie hat die Pflegerin Theresa überredet, ihren Dienst täglich bei ihr und nicht bei anderen Klienten zu beginnen, und Theresa, die eine äußerst nette Person ist, tut das: Sie kommt täglich Punkt 6 Uhr 30 (statt, wie üblich, um sieben Uhr). Extra, weil Mama das so will. Als wäre 6

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