Lippenstift statt Treppenlift
Uhr 30 nicht schon früh genug, steht Mama auch noch zwei Stunden davor auf: Ihr Wecker steht auf 4 Uhr 30!
»Da kann ich doch nichts dafür! Der ist nun mal so eingestellt!«, keift Mama, als ich sie darauf anspreche.
Sofort bekomme ich wieder mein schlechtes Gewissen: Vielleicht kann sie ihn gar nicht mehr umstellen, weil sie mental nicht mehr in der Lage ist, die Weckfunktion des Gerätes auf eine humane Zeit zu arretieren? Hätte ich besser auf die arme alte Frau achten müssen? Bin ich schuld, dass sie keinen Schlaf mehr hat, weil ein grausamer Wecker sie terrorisiert und keine Tochter ihr Leiden bemerkt?
Nein, so war es gar nicht: Mama kann schon noch problemlos den Wecker einstellen, und das tut sie auch: absichtlich auf volle zwei Stunden, bevor Theresa an der Tür schellt.
Ömi, meine Schwiegermutter, ist aus anderen Gründen früh auf den Beinen: wegen der besagten Ruhe. Das ist allerdings nur die offizielle Version. Tatsächlich steht sie wohl auch so früh auf, weil sich ausschlafen laut dem ungeschriebenen Verhaltenskodex, dem sie sich unterordnet, nicht gehört. Im Gegensatz zu Mama, bei der ich manchmal den Verdacht habe, dass sie tagsüber mehr Nickerchen einlegt als Wachphasen, schläft Ömi untertags nie. Sie legt nicht mal die Beine hoch. Manchmal übermannt sie die Müdigkeit, und ihr Kinn sinkt langsam auf die Brust, aber da reißt sie sich immer sofort zusammen, drückt das Kreuz durch und bemüht sich um Haltung.
Gegen zwölf Uhr mittags ist sie dann kaum noch in der Lage, einer Unterhaltung zu folgen, und ab vierzehn Uhr redet sie wirr, als wäre auch sie dement. Zum Beispiel bringt sie alle Verwandtschaftsverhältnisse durcheinander.
»Bist du froh, dass dein Sohn sich Urlaub genommen hat?«, fragte sie mich zum Beispiel unlängst und deutete auf meinen Mann.
»Aber das ist doch gar nicht mein Sohn. Das ist doch dein Sohn!«, versuchte ich aufzuklären.
»Schon gut, schon gut«, sagte sie dann. »Er ist schon ein lieber Sohn!«
Oder sie nennt mich wieder Doris, nach der Schwägerin, die sie am wenigsten mag.
Einmal erzählte sie, dass sie sich früher als ältestes Kind in ihrer Familie immer um die jüngeren Geschwister kümmerte wie eine kleine Mutter. Bei den Hausgeburten saß Ömi, die damals erst ein kleines Mädchen war, aufgeregt vor der Tür im Flur, und wenn das jeweilige Baby auf der Welt war, dann öffnete die Hebamme und drückte Ömi das Neugeborene gleich in den Arm.
Fünf jüngere Geschwister hat Ömi, und sie kann sich noch an jede Geburt erinnern, sagt sie: an Hugos, Friedas, Walthers, Antons und Herberts Geburt. Und an die von Hilde.
Hilde ist die Ehefrau von Herbert. Doch dass die beiden gleichzeitig auf die Welt gekommen sein sollen, das war uns allen neu.
»Doch doch, das weiß ich noch genau, wie die Hebamme rauskam mit dem Herbert und der Hilde auf dem Arm!«, sagte Ömi.
»Waren wohl Zwillinge, die beiden, oder, Mama?«, sagte mein Mann und blickte betont ernst.
»Kann schon sein, dass man das heute so nennt«, sagte Ömi und lächelte fein.
Manchmal, wenn wir sie besuchen, ist Ömi schon so müde, dass sie das Wichtigste (in ihren Augen zumindest) vergisst: die guten Manieren. Oder vielleicht genießt sie es auch, im Alter einfach alles tun und sagen zu können, was sie immer schon wollte.
Einmal hatte Markus, mein Schwager – der Mann von Claudia, der Schwester meines Mannes –, versprochen, bei Ömi Spargel zu kochen. Es war ein sonniger Frühsommertag, Markus hatte ein verwegenes Strohhütchen aufgesetzt, außerdem trägt er neuerdings das Haar länger und wirkt etwas verändert.
»Du siehst immer mehr aus wie der Volker Schröder«, sagte Ömi. Schröder war ihr alter Nachbar, der inzwischen längst im Seniorenheim lebt.
»Ach was?«, sagte Markus (der den Nachbarn gar nicht kannte) leichthin und wandte sich dem Spargel zu.
»Ja wirklich, als wärt ihr verwandt. Wie aus dem Gesicht geschnitten!«, betonte Ömi. »Das war ein schleimiger Kerl, dieser Schröder! So ein Unsympath! Und falsch wie eine Schlange.«
Was kann man darauf erwidern? Markus sagte, was er immer sagt: »Elsbeth, füttere den Hund bitte nicht. Sonst kotzt er wieder.«
Ömi hat nämlich schon einige Haustiere gemästet: Unter ihrer Pflege haben bereits einige Hunde und Katzen kugelförmige Ausmaße angenommen. Ömi meint das natürlich nicht böse, sondern liebevoll. Zuerst werden die Tiere bei ihr ein wenig träge, dann hängt der Bauch, irgendwann sind sie so fett, dass
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