Lippenstift statt Treppenlift
Zimmer zu Zimmer und dreht die Heizkörper ab, aber wie durch ein Wunder stehen sie jedes Mal, wenn er wieder nachsieht, erneut auf Höchststufe. Manchmal stellt er sich einfach eine viertel Stunde kurzärmelig in den Garten, um runterzukühlen. »Ich packe das da drin einfach nicht!«, stöhnt er dann immer, wenn wir ihn holen kommen.
Was mich ganz verrückt macht, sind die Übernachtungen bei Ömi: Immer an Weihnachten, oft zu Ostern und manchmal auch zwischendrin übers Wochenende verabreden wir uns nämlich mit Claudia und ihrer Familie in Ömis Haus, zur Familienzusammenführung: Die Kinder wollen sich sehen und zusammen spielen, Ömi will die Kinder sehen, wir wollen, dass die Kinder ihre Oma oft genug sehen, und so weiter. Das ist natürlich wahnsinnig schön. Aber es macht einen auch völlig irre.
Am anstrengendsten ist für mich das Schlafen an sich. Es geht so los: Jedes Mal, wenn wir dort sind und Ömi geht zu Bett (meist gegen 19 Uhr 30), verabschiedet sie sich mit den gleichen Worten von mir: »Und du, liebe Doris, äh, ich meine Johanna, du schläfst dich morgen mal so richtig schön aus! Ich weiß doch, dass du morgens immer lang im Bett liegst!«
Das klingt nett. Misstrauisch macht einen dabei aber der Ton: Der klingt ein bisschen falsch. Dazu kommt, dass ich genau weiß, was Ömi von Menschen, die ausschlafen, hält: nicht so viel.
Außerdem ist die Aussage, ich würde morgens lange im Bett liegen, absolut falsch: Als Mutter zweier Schulkinder stehe ich notgedrungen jeden Tag um Viertel vor sieben auf und mache Frühstück und Pausenbrote. »Ja, ja, natürlich«, sagt Ömi und blickt mich an, als glaube sie mir kein einziges Wort.
Darum versuche ich nun schon seit Jahren, auch bei ihr so früh wie gewohnt aufzustehen. Doch das ist gar nicht so einfach. Ömis Haus hat nämlich viel Platz, aber nur wenige Betten. Und wir können nicht einfach welche dazukaufen, das würde sie als zu große Einmischung in ihren Haushalt begreifen. Darum muss ich in ihrem Haus immer mit meinem kleinen Sohn in einem Bett schlafen, wobei der mittlerweile auch nicht mehr so klein ist, dass man dabei gut schlafen könnte, und außerdem rudert er im Schlaf mit Armen und Beinen.
Ab 3 Uhr 30 rumort es dann sowieso durchs Haus: Ömi ist wach. Und sie möchte, dass das auch bemerkt wird, gar nicht unbedingt von mir oder sonst einem Erwachsenen, sondern von den Kindern: Wenn wir bei Ömi schlafen, stehen die beiden jüngeren nämlich immer besonders früh auf, um zusammen zu spielen und gemeinsam mit Ömi »die Ruhe« zu genießen (das ist in dem Zusammenhang als relativ zu verstehen, denn sie machen dabei gehörig Krach).
Aber dazu muss Ömi die Jungs erst mal wecken, und sie kann ja schlecht um vier bei uns hereinschneien. Darum knallen bei Ömi »ganz zufällig« mitten in der Nacht die Türen im Luftzug, es ertönt unvermittelt das Lärmen der Radionachrichten, und der Staubsauger jault auf. Jedes Mal richtet sich mein Sohn auf und murmelt, er wolle raus, zu Ömi und Moritz.
Ungefähr zehnmal erkläre ich ihm, dass es noch mitten in der Nacht sei und Moritz längst noch nicht wach. Das klappt aber höchstens bis sechs Uhr früh, dann dampft er ab.
Aber ich muss dann einfach den verpassten Schlaf nachholen, und wenn ich schließlich, noch ganz zerstört, als Letzte unten beim Frühstück auftauche, ist es schon wieder viel zu spät.
Claudia nervt am allermeisten bei Ömi, dass sie sich nie helfen lässt: Um sie nicht zu belasten, kümmern wir uns nämlich in Ömis Haus ums Essen, denn sie sagt, sie schaffe das nicht mehr. Wir stimmen uns deshalb immer kurz telefonisch darüber ab, was es zu essen geben soll. Aber wenn wir dann ankommen, dann stellen wir oft fest, dass Ömi auch noch mal alles eingekauft hat. Deshalb stehen bei uns dann manchmal so viele Brötchen auf dem Frühstückstisch, dass sie nicht nur für uns acht, sondern locker für zwanzig Leute reichen würden. Und wenn wir abspülen wollen, müssen wir Ömi fast mit Gewalt aus der Küche scheuchen. Wenn wir aber nicht rechtzeitig spülen, sondern nach dem Essen erst mal ein paar Minuten verschnaufen wollen, dann ist es auch wieder nicht recht. »Eigentlich ist ihr nichts recht!« schimpft Claudia manchmal.
Das mit den doppelten Mengen an Lebensmitteln kann allerdings auch daran liegen, dass Ömi mit Mengenangaben und Zahlen auch schon manchmal überfordert ist. Unlängst beispielsweise meldeten sich ihre Schwester Frieda und deren Mann zum
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