Lippenstift statt Treppenlift
der Fahrt stellte ich beim Blick auf die Karte fest, dass der Urlaubsort, an dem meine Schwester Lisa und ich als Kinder mit den Eltern viele Male die Ferien verbracht hatten, nur dreißig Kilometer entfernt war. Was lag näher als ein kleiner Ausflug dorthin, um mal zu gucken, was sich verändert hat?
Er war sehr viel voller als damals in der Kindheit, regelrechte Touristenpulks pflügten sich ihren Weg durch das kleine Städtchen. Unser altes Hotel am Rande des Ortes sah aber noch ganz unverändert aus, nur dass jetzt unzählige weiße Plastikliegen die Wiese vor dem Meer, auf der wir als Kinder gespielt hatten, bedeckten. Viel zu entdecken gab es auf den ersten Blick nicht. Wir bummelten noch ein wenig umher und waren schon auf dem Rückweg zum Wagen. Da plötzlich sah ich es: ein leerstehendes Gebäude mit einem verwitterten Schild über der Tür.
Der Anblick traf mich bis ins Mark. Eine ganze Stunde verbrachte ich heulend auf den Stufen am Eingang, erst dann konnte ich mich allmählich so weit beruhigen, dass ich überhaupt etwas erklären konnte.
»Self Service«, stand auf dem Schild über dem Eingang – es war das alte Selbstbedienungsrestaurant. Vielleicht sogar das allererste Selbstbedienungsrestaurant in der ganzen Region, dem ganzen Land. Einst ein Symbol für Effektivität und kühnen Fortschritt. Ein großer, hoher, heller Raum, mit chromglänzenden Anrichten an den Seiten, mit blitzenden Förderbändern, dahinter strahlende Frauen in weißen Schürzen, das Haar unter Hauben – plötzlich fiel mir alles wieder ein.
Jahrzehntelang hatte ich die Existenz des Lokals völlig vergessen und nicht eine Sekunde daran gedacht. Es war ja auch ein Ort, den wir nur beiläufig besuchten – nicht etwa zu Hochzeiten oder anderen wichtigen Familienereignissen, sondern nur so nebenher, wie man es gemeinhin bei Selbstbedienungslokalen tut. Und trotzdem: Hier und nirgends sonst konnte ich plötzlich Papa genau vor mir sehen.
Es war mein junger Vater von einst, vielleicht 35 Jahre alt, gut aussehend mit blonder Tolle und schlanker, aufrechter Figur. Wir Mädchen hatten bunte Frotteekleider über unsere Badeanzüge gestreift, Mama lag derweilen auf ihrer Decke auf der Wiese am Meer, denn zu Mittag gönnte sie sich keinen Happen (wegen der Figur). Wir Kinder tollten den ganzen Weg um Papa herum und freuten uns: Im Self Service durfte man die Speisen betrachten, sie selbst auswählen und auf das Tablett stellen, darum liebten wir das Lokal und wollten täglich herkommen, und Papa, lachend, in bester Urlaubsstimmung, tat uns den Gefallen. Ich erinnere mich an Reis mit bunten Gemüsestückchen, an Kartoffelsalat mit dottergelber Mayonnaise, an rote Götterspeise, in der Pfirsichstückchen wie eingefroren schwebten. Wir durften wählen, was wir wollten, und wenn es uns dann doch nicht schmeckte, war das auch kein Problem. Bei Papa mussten wir nie aufessen, er war niemals streng damals, sondern jung und lässig. Er war ein Mann, der das Leben und die Zukunft noch vor sich hatte, souverän, erfolgreich, großzügig und ein liebevoller Vater. Damals vor langer, langer Zeit.
Nun stand ich vor dem verlassenen Lokal, und es erschien mir wie ein Symbol für alle Endlichkeit: Aus den Fugen der Terrassenfliesen wuchs büschelweise das Gras, die Glasfront war verschmiert und die Eingangstür schon lange verrammelt und mit verblichenen Plakaten bedeckt. Im Inneren aber, das konnte man durch die Fenster sehen, war alles Mobiliar noch vorhanden, als wäre gestern noch Betrieb gewesen: die Anrichten, die hohen, ungewöhnlich edlen Lampen, von denen die meisten noch ihre Schirme trugen. Sogar der Vorhang, lang und immer noch weiß – alles war noch da. Es war ein Ort der Zuversicht gewesen, das konnte man noch gut erkennen, ein Symbol für Modernität, lange vor unserer heutigen Zeit, in der Self Service nach billiger Fast-Food-Abfertigung klingt. Ein Palast aus einer fremd gewordenen Moderne, versunken in einer vergangenen Zeit, wie unsere Kindheit, wie Papas Leben, wie alles. Sogar der Name auf dem Schild kam mir nun symbolträchtig vor: Self Service! Als wäre das die Essenz des Daseins. Nur: Was auch immer man wählt (oder bekommt) – am Ende weht die Vergänglichkeit alles fort.
So grübelte ich jedenfalls an jenem Nachmittag und heulte und heulte, aber wahrscheinlich was es einfach der Moment, in dem es mir endlich völlig klar wurde: Papa ist tot!
Als er starb, war er von Mama ziemlich genau dreißig Jahre getrennt.
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