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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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Dreißig Jahre, in denen sie nicht auch nur ein einziges Wort wechselten. Dreißig Jahre, in denen sie ausschließlich schlecht übereinander redeten. Bei unabsichtlichen Treffen – es gab so einige, zumeist auf der Straße und in Arztpraxen, die beide frequentierten – sahen sie absichtlich weg und ignorierten einander. Auch sonst kümmerten sie sich überhaupt nicht umeinander, sondern lebten einfach jeder sein eigenes Leben. Sie hatten gar nichts mehr miteinander zu tun. Sie waren froh, einander los zu sein. Aber keiner von beiden hatte jemals wieder eine ernst zu nehmende Beziehung. Und als Papa starb, da wurde Mama auf einen Schlag alt. Darum kann ich nicht von meiner Mutter erzählen, ohne auch von meinem Vater zu sprechen.
    Mama und Papa waren wie Richard Burton und Elizabeth Taylor. Sie waren grandios, charismatisch, umwerfend attraktiv, laut und überbordend, ungeheuer zärtlich, enorm eloquent, aber leider hochexplosiv und vollkommen unmöglich. Es knallte regelmäßig. Dann wurde Mama hysterisch und kreischte geschlagene sieben Tage heulend durch die Wohnung, rasend wie ein waidwundes Tier. Es war meine Schuld, alles nur meine Schuld, sagte Papa einmal, etwa 28 Jahre nach der Trennung, als ich anmerkte, Mama sei schon irgendwie schwierig. Es war das erste – und einzige – Mal, dass er das sagte, aber es klang, als habe er oft darüber nachgedacht.
    Eigentlich waren sie ein Paar, das zu schön und zu großartig war, um wahr zu sein: Mama, Typ Diva, aber mit Grips und Hochschulabschluss (sie lernten sich beim Architekturstudium kennen), und Papa, der blendend aussehende Abenteurer.
    Wenn ich alte Bilder ansehe, bin ich manchmal regelrecht berührt davon, wie schön meine Eltern waren. Papa sogar vielleicht noch etwas mehr als meine Mutter. Papa hatte grüne Augen und einen extrem vollen Mund, mit einer geschwungenen Oberlippe wie gemalt. Eine Nase wie bei einer alten römischen Statue und eine Haltung, so aufrecht und cool, dass es kaum auszuhalten war. Im Rückblick erscheinen sie mir illuminiert von gleißendem Licht wie von Scheinwerfern.
    Papa jedenfalls baute Häuser, er war Architekt, er malte wundervoll, und alles, was er anfasste, geriet schön: sogar seine Handschrift. Ja, selbst der Inhalt seiner Briefe war wunderbar: Wenn er im Ausland arbeitete, schickte er seitenweise Reiseberichte in seiner gestochenen Schrift – witzige, farbenfrohe Beschreibungen, absolut ungewöhnlich für ein so technisches Naturell. Doch er war auch ein großer Leser und ein Weltentdecker: Er liebte das Meer, den Süden, die Berge, die Wüste. Er baute Schulen, Sportstadien, arbeitete im Ausland (besonders lange im Nahen Osten). Er feierte Triumphe und wurde gefeiert, arbeitete als Büroleiter und später im eigenen Betrieb. Doch manchmal ging er tagelang nicht zur Arbeit, stand nicht auf aus dem Bett, und Mama raufte sich die Haare. Er trank nämlich viel zu viel. Und er rauchte natürlich, so drei bis vier Schachteln am Tag.
    Papa machte eine Menge Geld. Und dann machte er eine noch wesentlich größere Menge Schulden. Dafür konnte er nur zur Hälfte etwas, sagte Mama immer: Sein Projekt war nicht richtig versichert, das Gebäude vielleicht auch nicht richtig isoliert, ich weiß es nicht genau, keiner hat es uns Kindern je richtig erklärt, und heute erinnert sich keiner mehr richtig daran. Jedenfalls trat damals ein später, unvorhergesehener Frost ein, und alle Heizleitungen platzten, und alles ging kaputt: Böden, Wände, die kostbaren Antiquitäten der Bewohner. Am Schadensersatz zahlte Papa sein restliches Leben lang – das zumindest weiß ich gewiss. Nach dem Vorfall musste er kleinere Brötchen backen, aber das war für Mama okay. Sie war es, die die Gerichtsvollzieher in Schach hielt und die schließlich in den Stellenanzeigen der Zeitung einen neuen Job für Papa fand: ganz seriös bei der Stadt. Währenddessen fing sie als technische Zeichnerin an, Geld dazuzuverdienen. Ihr Architekturstudium lag damals schon zu weit zurück, um in diesem Beruf noch starten zu können. Doch Papa soff immer noch. Als ich etwa vierzehn war, warf sie ihn raus. Als ich siebzehn war, ging er endlich. In den drei Jahren dazwischen hauste Papa im Wohnzimmer auf der Couch, trank unglaublich viel und demolierte dann immer wieder Einrichtungsgegenstände. Ehrlich gesagt war die Einrichtung nicht das einzige Opfer seiner Gewaltattacken: Alkoholmissbrauch macht aggressiv, das weiß jeder, der je mit echten Alkoholikern in

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