Lippenstift statt Treppenlift
Jugend auf dem Münchener Oktoberfest kennengelernt hatten. Durch diese Familiengeschichten kamen wir uns näher.
Mit der Zeit ging es ihm auch körperlich wieder besser: Kurz nach dem kleinen Schlaganfall hielt er es in lauten Lokalen kaum aus, das Lesen strengte ihn außerdem sehr an (dabei war er immer ein leidenschaftlicher Leser gewesen), und wenn er uns besuchte, achtete er immer darauf, vor Anbruch der Dunkelheit nach Hause zu gehen, denn er fand sich sonst nicht mehr gut zurecht. Doch all das war schließlich gar kein Problem mehr. Es ging ihm wieder ganz gut.
Und dann kam der Krebs.
Die erste Chemotherapie lief relativ problemlos ab – wenn man das von einer Chemotherapie so sagen kann. Jedenfalls wurde sie ambulant verabreicht. Papa fühlte sich in der Zeit extrem schwach und appetitlos, aber er kam alleine zurecht. Die Ergebnisse waren ganz gut. »Es hat was gebracht!«, sagte Papa, und wir freuten uns. Sehen wollte er uns in der Zeit allerdings nicht. »Auf gar keinen Fall!«, sagte er, und dass er Angst habe, sich von den Kindern mit einem Infekt anzustecken. Das musste ich natürlich respektieren. Nicht mal zu Weihnachten wollte er uns treffen.
So richtig verbrachten wir das Weihnachtsfest nie miteinander, denn wir feiern schon seit Jahren bei Ömi, und Papa feierte mit Freunden. Doch den Dreiundzwanzigsten verbrachte Papa eigentlich all die Jahre bei uns: Er war dabei, wenn wir zu Hause den Christbaum aufstellten und mit den Kindern schmückten, dabei tranken wir Kaffee und aßen Plätzchen. Später kochte ich immer etwas zum Abendessen, und wir machten eine kleine Vorab-Bescherung, bei der Papa seine Geschenke bekam und die Kinder ihre Geschenke von ihm entgegennahmen. Wir mochten den Dreiundzwanzigsten. Für uns war dieser Tag ein Teil von Weihnachten geworden, und ihm ging es wohl auch so.
Doch nun wollte er lieber alleine zu Hause sein. Ich schickte ihm einen Einkaufstrolley nach Hause, damit er seine Einkäufe leichter erledigen konnte, denn er war ja so schwach, und einen großen Fresskorb, um seinen Appetit anzuregen, und er sandte Karten mit Geld, diesmal per Post.
Als ich das braune Kuvert öffnete, in dem die hübschen Grußkarten steckten, hätte ich fast geweint. Nicht nur wegen der Geste, sondern auch, weil mich der Geruch der Karten so traurig machte: Sie rochen so intensiv nach Nikotin, als bestünden sie aus Tabak. Das kam daher, dass sie wohl schon eine Weile in Papas Wohnung gelegen hatten, wo er mit dem Krebs kämpfte und gegen die Raucherei – und beides wohl vergeblich. Das war das Traurige daran.
In den letzten Jahren hatte Papa, anders als all die Jahre davor, nicht mehr Kette geraucht, sondern dauernd versucht aufzuhören. Aber es gelang ihm nie so recht. Wenn er bei uns zu Besuch war, schlich er immer ein paar Mal verschämt auf den Balkon und qualmte. Er sah dabei aus, als wäre es ihm peinlich, deswegen ging ich auch immer raus und rauchte ein paar Zigaretten mit. Aber ihm war es trotzdem peinlich, denn eigentlich hatte der Arzt ihm das Rauchen verboten, schon nach seinem Schlaganfall, lange vor dem Krebs, und er schämte sich, dass er es nie schaffte, ganz aufzuhören.
Nach der ersten Chemotherapie sagten die Ärzte, sie sei erfolgreich gewesen. Papa wurde wieder kräftiger, er verreiste sogar: Er fuhr mit einem Freund nach Südtirol, so wie er es alle Jahre im Frühjahr getan hatte. Als seine Haare wieder etwas nachgewachsen waren, kam er uns auch wieder besuchen: Er sah noch sehr zerbrechlich aus, aber er war ganz gut drauf.
Die Ergebnisse der nächsten Untersuchung aber waren verheerend: Offenbar war der Krebs gar nicht wirklich in Schach gehalten worden, denn nun waren plötzlich überall Metastasen. Nun reichte eine Chemo nicht aus – Papa brauchte dazu auch noch Bestrahlungen. Von beidem packte er nicht mal den ersten Zyklus, er war einfach zu schwach. Die Therapie musste abgebrochen werden, sonst wäre er wahrscheinlich auf der Stelle daran gestorben.
Plötzlich war der Krebs überall. Es gab Metastasen in den Knochen und im Gehirn. Er magerte völlig ab, sodass er aussah, als wäre er schon längst tot – wie eine Mumie. Er war sogar an Stellen mager, an denen man sonst nie abnimmt. Er hatte zum Beispiel keine Handballen mehr, alles Fleischige an den Händen war verschwunden. Seine Hände waren so schmal, dass es aussah, als würden die Finger direkt aus den Handgelenken wachsen.
Man kann es zusammenfassend nur so sagen: Alles war entsetzlich. Dazu
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