Lippenstift statt Treppenlift
kam, dass es Lisa und mir nicht immer leichtfiel, für Papa da zu sein. Papa – das war für uns natürlich der wunderbare Vater aus unserer Kindheit. Er war aber auch der böse Säufer aus den Jahren vor der Trennung von Mama, und er war der Vater, der sich jahrzehntelang keinen Deut um uns gekümmert hatte. Und in den letzten Jahren war er nur ein alter Herr aus der Verwandtschaft gewesen, zu dem wir ein eher distanziertes Verhältnis pflegten, so wie zu einem entfernten Onkel und nicht zum eigenen Vater.
Die Distanz machte es auch schwer, ihm bei alltäglichen Dingen zur Hand zu gehen. Manchmal kam ich beispielsweise zufällig zur Essenszeit ins Krankenhaus, und weil Papa oft so schwach war, dass er nicht selbstständig essen konnte, gingen die Schwestern automatisch davon aus, dass ich ihn füttern sollte. Natürlich tat ich das. Aber es war sehr schwer. Ich glaube, es wäre mir leichter gefallen, einen wildfremden Kranken zu füttern. Manchmal, wenn ich bei ihm im Krankenhaus saß, dachte ich: »Du an meiner Stelle würdest nicht für mich hier sitzen.« Ich weiß auch nicht wirklich, warum ich dort saß. Es kam ganz automatisch, als wäre es eben das, was in solch einer Situation zu tun ist.
Mama war rasend eifersüchtig auf Papas Lungenkrebs. Gegen eine tödliche Krankheit sah ihre Wirbelsäulenverkrümmung nämlich ziemlich läppisch aus (die Demenz war damals noch nicht diagnostiziert). Natürlich hätte sie nicht gerne Krebs gehabt, doch es war ganz schwierig für sie, nicht mehr die Allerkränkste in der Familie zu sein. Am Anfang sagte sie sogar, sie habe nicht das geringste Mitleid mit ihrem Ex-Mann. Nach und nach relativierte sie die Sache dann und erkundigte sich oft nach ihm, wobei sie aber nicht so richtig wissen wollte, wie es ihm geht, sondern eher, ob er sich darum sorgte, wie es ihr geht. »Hat er überhaupt mal nach mir gefragt?«, fragte sie dann immer. »Weiß er, dass ich solche argen Rückenprobleme habe?«
Tatsächlich erkundigte sich Papa in all den Jahren wirklich oft nach ihr, eigentlich bei jedem Treffen. Seine Worte lauteten dann immer in etwa so: »Wie geht’s ihr denn, der alten Hex’?« Aber das behielten wir natürlich lieber für uns.
Nur auf eines war Mama wider Erwarten nicht eifersüchtig: darauf, dass wir uns oft um Papa kümmerten. Das fand sie okay. Vielleicht gab es ihr die Sicherheit, dass wir uns später auch mal um sie kümmern würden.
In vielen Punkten war Papa als kranker Mann genauso wie Mama: Er machte einem das Leben total schwer. Er wollte nicht die geringste Hilfsleistung annehmen und lehnte alle Formen von Pflege und Pflegeheim kategorisch ab. Im Krankenhaus können Pflegepatienten aber nicht lange bleiben, deswegen wollte das Klinikpersonal für ihn eine häusliche Pflege initiieren.
»Essen auf Rädern kommt mir nicht ins Haus!«, polterte er da. »Wenn ich morgen hier rauskomme, dann brate ich mir einen Schweinsbraten, und abends gibt’s gefüllte Paprika. Der Kühlschrank ist ja voll!« Er war so überzeugend, dass sie ihn beinahe tatsächlich ohne jeden Helfer nach Hause gelassen hätten. Da wäre er dann wahrscheinlich gleich verhungert und verdurstet: Papa schaffte es damals schon nicht mal mehr alleine aufs Klo.
Also kamen Pfleger, dreimal täglich, doch immer nur ganz kurz. Die von der Kasse bewilligte Pflegezeit beträgt nur drei mal fünfzehn Minuten, und von Vollzeitpflege oder einem Heim wollte Papa nichts wissen. Wenn die Pfleger weg waren, lag Papa gekrümmt auf dem viel zu kleinen Sofa, in Jogginghosen und einer dicken Strickjacke, die Heizung voll aufgedreht, die Decke bis zum Kinn, und bibberte vor sich hin. Und keiner von uns konnte ihm so richtig helfen. Natürlich, wir brachten Zitronenlimo, weil das das Einzige war, was er trinken mochte, wir brachten die Zeitung, Obst, einen Rollator, Knabberzeug, Haltevorrichtungen für die Badewanne, einen erhöhten Klositz, Blumen, Duftkerzen, Hörspiele, eine Mikrowelle, alles Mögliche, aber wir waren trotzdem keine Hilfe. Wir konnten ihm nicht mal richtig helfen, wenn er aufstehen wollte: 1,78 Meter Körpergröße ist für einen Mann wie gesagt nicht viel – aber eben doch zu viel, um von einer wesentlich kleineren Frau gestützt zu werden, die nicht mal weiß, wie das eigentlich geht. Ich hatte Angst, er rutscht mir weg und bricht sich alle Knochen.
Immer, wenn ich seine Wohnung verließ, fürchtete ich, er würde noch in derselben Nacht sterben, eingewickelt in die alte Decke, auf
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