Lippenstift statt Treppenlift
Berührung gekommen ist. Es war eine entsetzliche Zeit. Jedenfalls waren wir alle glücklich, als er endlich auszog.
Danach hatten wir gut fünfzehn Jahre lang keinerlei Kontakt. Ich dachte nicht einmal mehr an ihn, und wenn, dann nur mit Grausen. Zum neunzigsten Geburtstag meiner Großmutter sollten wir uns dann wiedersehen und in ihrem Altersheim gemeinsam mit der ganzen Familie feiern. Das wünschte sie sich. Und wer könnte einer so alten Frau schon einen Wunsch abschlagen?
In der Nacht vor dem Treffen konnte ich keinen Schlaf finden. Ungefähr hundert Mal beschloss ich, am nächsten Morgen abzusagen. Ich wollte Papa nicht treffen. Ich hatte einfach Angst vor ihm.
Der Mann, der mir dann begegnete, war ein anderer als der, den ich gekannt hatte. Er war nicht mehr aggressiv und aufgebracht. Er war auch nicht mehr umwerfend charismatisch und blendend gut aussehend. Er war nur noch ein sehr unsicherer, kleiner Herr. Papa war nämlich nur 1,78 groß und nicht zwei Meter, wie er mir als Kind immer erschienen war. Er machte sich die ganze einstündige Fahrt zum Altersheim seiner Mutter Sorgen, ob wir für seinen Wagen dort in der Nähe einen Parkplatz finden würden. »Mein« Papa (der von früher) hätte sein Auto einfach auf den Bürgersteig gestellt.
Am Steuer saß übrigens nicht er selbst, sondern Lisa, meine Schwester, die schon seit ein paar Jahren wieder Kontakt zu Papa hatte (nicht etwa, weil er sich darum bemüht hätte, sondern nachdem sie die Initiative ergriffen hatte). Papa konnte längere Fahrten nicht mehr allein bewältigen. Er war damals schon ein kranker Mann. Gleich in seinem allerersten Jahr als Rentner hatte er einen kleinen Schlaganfall gehabt, seither konnte er linksseitig nichts mehr sehen. Daher die Unsicherheit. Er mied volle Räume, Restaurants, Kneipen. Dabei war er gesellig, liebte es immer noch, auszugehen und zu feiern. Doch das ging erst mal nicht mehr. Eigentlich hätte er auch gar nicht mehr Auto fahren dürfen, doch in der Stadt konnte er es einfach nicht bleiben lassen, es war fast wie eine Sucht. Ursprünglich war sein Plan für die Zeit nach der Pensionierung gewesen, noch einmal ganz Europa hinter dem Steuer zu bereisen. Papa liebte Autoreisen. Nun musste er sich anders orientieren. Doch er jammerte nie und ignorierte alle Unpässlichkeiten, so gut es eben ging. Er war wahnsinnig tapfer – was Krankheiten angeht, war Papa das krasse Gegenteil von Mama.
Das Kalkül meiner alten Großmutter, die leider bald nach ihrem Neunzigsten verstarb, ging auf: Nach dem Treffen mit Papa näherten wir uns wieder an. Besonders froh war mein Vater, dass er nun Kontakt zu den Enkelkindern bekam, zu Ida und später zu Linus. Allerdings wurde das Verhältnis zwischen mir und ihm nie mehr so vertraut wie in der Kindheit. Es war nie wieder so wie vor der schlimmen Phase, als er aggressiv war und so besonders viel trank. Auch jetzt war mir klar, dass er das Trinken nie ganz würde sein lassen können. Weil die Distanz zwischen uns nun zu groß war, konnten wir uns beispielsweise niemals mehr umarmen. Wenn wir uns trafen, gab Papa mir die Hand, als wären wir entfernte Bekannte.
In einer Sache glich er Mama: Er überschüttete die Kinder mit Geschenken. Jedes Mal brachte er große Tüten voller Süßigkeiten mit, fast unglaubliche Mengen, auch Spielsachen, Malbücher, Puppen und Plüschtiere und bei Geburtstagen und an Weihnachten immer ziemlich viel Geld. Zweihundert, dreihundert Euro pro Kind, manchmal noch mehr, und für mich auch noch jedes Mal einige Hunderter. Es war mir, wegen dieser Distanz zwischen uns, irgendwie unangenehm. Doch Mama, bei der ich dies einmal erwähnte, fand, ich solle mich nicht so haben, schließlich habe Papa mich meine ganze Jugend hindurch null unterstützt, und das war natürlich wahr. Ich lernte also, mich über das Geld zu freuen, und auch darüber, wie er es überreichte: immer in besonders hübschen Karten, versehen mit sehr lieben Worten, die in seiner gestochen schönen Schrift verfasst waren.
Mit der Zeit fühlte ich mich dann mit Papa wieder wohler. Wir besuchten gemeinsam Biergärten und Gaststätten, öfter kam er zum Essen oder zum Kaffee zu uns nach Hause. Das Schönste war, dass er eine Menge Geschichten erzählte über uns und unsere Familie. Geschichten, die ich noch nicht kannte und die ich ohne ihn nie gehört hätte: darüber, wie glücklich er und Mama waren, als sie jung waren und wir Kinder noch klein. Oder dass seine Eltern sich in ihrer
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