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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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seinem Ledersofa, unwürdig und jämmerlich.
    Schließlich verursachten die Metastasen in seinem Gehirn einen heftigen epileptischen Anfall, und das war, so komisch es klingen mag, ein Riesenglück.
    Papa kam wieder ins Krankenhaus, und dort verabreichten sie ihm gegen die Anfälle ein Mittel auf Cortison-Basis, davon bekam er richtig gute Laune, denn das Mittel wirkte wie ein Antidepressivum. Er bekam ordentlich Appetit! Und er bekam auf Initiative der Klinik-Sozialpädagogen einen Platz in einem Sterbehospiz. Weil er durch die Medikamente so gut drauf war, willigte er sogar ein.
    Von da an wurde das Sterben für Papa schöner (wenn man das so sagen kann. Ich glaube, er hätte es auch so gesagt). Das nächste Mal schon besuchte ich ihn in einem Einzelzimmer, das größer war als sein Wohnzimmer, mit einer Fensterwand vor einem herrlichen Herbstgarten. Er saß aufrecht im Bett, sah gemütlich fern, aß Nusskuchen und trank Kaffee. Dann kam eine Schwester und holte mich, um einen Fragebogen mit mir durchzugehen.
    »Raucht ihr Vater?«, war zum Beispiel eine der Fragen. Eine peinliche Frage, wie ich zunächst fand.
    »Wissen Sie«, sagte ich ein wenig säuerlich. »Vielleicht haben Sie nicht in die Akte gesehen, aber mein Vater ist ja wegen seines Lungenkrebses hier. Er raucht jetzt natürlich nicht mehr …«
    »Schon klar«, sagte die Schwester. »Aber wenn er rauchen möchte: Bei uns ist das den Patienten ausdrücklich erlaubt. Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen, dass wir nicht alle Marken vorrätig haben. Ich glaube, es sind nur noch R1 da.«
    »Also, ich kann mir jetzt nicht so vorstellen, dass Papa in seinem Zustand … nun ja … obwohl?! Vielleicht sollten wir ihn mal fragen!«, sagte ich.
    »Auf jeden Fall. Wenn er nämlich keine R1 mag, dann sollten Sie ihm die Marke mitbringen, die er gern raucht. Und wie ist es mit Alkohol?«
    »Mag er eigentlich auch immer ganz gern«, sagte ich wahrheitsgemäß.
    »Wir versuchen unseren Gästen hier den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen«, sagte die Schwester. »Aber wir haben nur Wein und Bier im Haus, zum Essen, und einen Kräuterschnaps. Wenn ihr Vater irgendwas anderes trinken möchte, Sekt oder so, dann bringen Sie doch einfach welchen mit!«
    »Meinen Sie wirklich? Verträgt er denn in seinem Zustand überhaupt Alkohol?«
    »Na klar. Warum denn nicht?«, sagte sie.
    »Dann kaufe ich ihm eine Flasche Whiskey«, sagte ich.
    »Prima«, fand die Schwester. »Im Kühlfach in der Teeküche gleich nebenan finden Sie jederzeit Eis.«
    Neben Alkohol und Zigaretten gab es im Hospiz Maniküre und Massagen, es gab nette ältere Damen, die zu viel Zeit hatten und ganze Nachmittage lang vorlasen, und kleine Konzerte. Es gab Palliativmedikamente (also zur Bekämpfung von Schmerzen bei unheilbaren Krankheiten), den großen Farbfernseher im Zimmer und hervorragendes Essen, serviert wie in einem guten Restaurant.
    »Heute Abend hätten wir Entenbrust an Feldsalat mit Röstkartoffeln oder grüne Ravioli mit hausgemachtem Rucola-Pesto. Was darf ich bringen?«, fragte der Pfleger beispielsweise.
    »Hm – da fällt die Wahl schwer!«, meinte Papa.
    »Ich kann Ihnen auch einen Teller mit beiden Speisen anrichten lassen.«
    »Das wäre natürlich toll!«, fand Papa.
    »Sehr gern!«, meinte der Kellner – nein Pfleger. Aber es war wirklich alles wie in einem guten Hotel.
    Überhaupt drehte sich bei Papa plötzlich alles nur noch ums Essen, er hatte einen Wahnsinns-Spaß daran und genoss es in vollen Zügen. Wir wussten natürlich, dass das eigentlich nur an dem cortisonhaltigen Mittel gegen die Anfälle lag, denn davor hatte er gar keinen Appetit mehr gehabt – aber egal. Hauptsache, es ging ihm gut. Das Essen im Hospiz reichte ihm nicht, er hatte auf alles Mögliche Appetit.
    Er wünschte sich Butterbrezeln (die aß er immer zwischen Frühstück und Mittagessen), Mandarinen, Haselnuss-Schokolade (viele, viele Tafeln davon). Er wünschte sich Salzstangen. Ich brachte ihm eine Tüte, aber die wollte er nicht. Irgendwann kapierte ich schließlich, dass er die Art Salzstangen vermisste, die es früher beim Bäcker gab – die kleinen Weißbrotstangen mit Streusalz und Kümmel, die schon seit etwa vierzig Jahren nicht mehr verkauft werden.
    Zu der Zeit war Papa schon nicht mehr in der Gegenwart unterwegs – jedenfalls nicht immer. Er machte offenbar eine Art Zeitreise und war nicht ganz präsent – ich weiß nicht, ob es an den Metastasen lag oder am Sterben generell.
    Einmal

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