Lipstick
Wimperntusche – Lippenstift? Nein, den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Nicht daß er wieder einen seiner »Lipstick«-Kommentare vom Stapel lassen konnte! Blutleere Lippen – das war alles, was ich ihm anbieten würde.
Gerade als ich die Wohnung verlassen wollte, stiefelte Tom die Treppe hoch.
»Wohin des Wegs, schöne Frau?« Es kam schließlich selten genug vor, daß ich mit Wimperntusche zum Einkaufen ging.
»Ein bißchen U-Bahn fahren«, murmelte ich. »Wir sehen uns später.«
Ich wußte, Tom würde mir nachstarren und glauben, ich sei verrückt oder aber – und damit lag er ja nicht ganz falsch – auf dem Weg zu meinem neuen Lover.
Zwar hatte ich schon tausendmal am Schlump gestanden, wußte aber natürlich nicht aus dem Kopf, wo es günstige Verstecke füralberne Spielchen gab. So würde ich ganz auf meine Spontaneität angewiesen sein, die angesichts meiner Aufregung wahrscheinlich nicht die beste war. Möglicherweise tauchte dieser Hallodri – wie Greta ihn nannte – gar nicht erst auf, was mir einiges ersparen würde: unmäßige Hormonausschüttungen zum Beispiel und die ganze Peinlichkeit der Situation; ich würde statt dessen die Ärmel meiner Strickjacke hochkrempeln und mit der nächsten U-Bahn Richtung Hafen fahren, um dort in aller Ruhe ein paar Strip-Kugelschreiber zu kaufen.
Noch zwei Stationen. Die vorbeifliegenden Häuser der Isestraße erschienen mir wie eine Filmkulisse. Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern der Altbauten, so daß es unmöglich war, einen Blick in das Innere der Wohnungen zu werfen, und plötzlich wußte ich genau, daß irgend etwas schiefgehen würde.
Schlump. Mit Gummibeinen stieg ich aus, und wäre es nicht lebensnotwendig gewesen, hätte ich einfach aufgehört zu atmen. Im Zeitlupentempo schlich ich über den Bahnsteig, ließ den Gedanken fallen, mich irgendwo zu verstecken, stolperte dann die Treppe nach unten – Punkt drei – und konzentrierte mich darauf, meinem Gesicht einen entspannten, ja lächelnden Ausdruck zu geben. Kamera läuft. Ein paar tänzelnde Schritte durch die Halle, ich drehte mich um – kein Jan. Mein Happyface fiel innerhalb von Sekunden in sich zusammen. Was sollte ich tun? Etwa auch noch auf diesen idiotischen Kerl warten? Meine Uhr zeigte drei Minuten nach drei. Okay, zwei Minuten gab ich ihm noch. Die nächste Ladung Fahrgäste wälzte sich die Treppe runter – kein Jan. Diese Kreatur! Warum tat ich mir das nur an? Trotz einer Mordswut im Bauch blieb ich wie zur Salzsäule erstarrt stehen. Irgend etwas hinderte mich daran, einfach zu gehen. Vielleicht war seine Bahn steckengeblieben, so etwas sollte vorkommen. Also gut. Noch fünf Minuten kriegst du, Halunke! Eine Menschenlawine nach der anderen ergoß sich über die Stufen, ich lächelte unermüdlich, während ich gleichzeitig immer zorniger wurde.
Um Viertel nach drei beschloß ich, meinem Leben endgültig einen Sinn zu geben, indem ich alles, was das Thema Männer betraf, aus meinem Kopf beförderte. Wieder die Treppen rauf – dieBahn gen Hafen lief gerade ein. Während die Tür hinter mir zuschnappte, streifte mich jemand mit seiner Tasche.
»Kennen wir uns nicht?«
Seine Stimme war merkwürdig hell an meinem Ohr. Ich drehte mich um und schaute ihn an. Unter normalen Umständen hätte ich geantwortet, zickig oder aggressiv, je nachdem. Einem Witthusen hätte ich gesagt, »Schätze, wir sind leider verabredet« oder »Was fällt dir eigentlich ein, du Schwachkopf?«, aber als ich mich umdrehte und Jans entwaffnendes Lächeln so direkt vor mir hatte, versiegte mein Sprachzentrum schlagartig.
»Tut mir leid, die Verspätung.«
Er dirigierte mich zu einem Fensterplatz, wo ich mich erschöpft wie nach einem Tausendmeterlauf fallen ließ. Immer noch war ich sprachlos und maßlos verärgert, dann plötzlich der Meinung, daß so eine kleine Verspätung schließlich ja mal vorkommen könne.
Ich starrte ihn – glaube ich – ziemlich penetrant an und prägte mir seine Gesichtszüge ein, als müsse ich ihn später aus dem Gedächtnis malen. Die kleine Narbe mitten auf der Stirn, seine farblich undefinierbaren Augen, die schmale, etwas zu lang geratene Nase, Wangen mit hellen Bartschatten, seine blassen Lippen … An ihnen blieb ich schließlich hängen – an ihren Bewegungen. Jan redete mit mir, ganze Sätze formulierte er, wahrscheinlich sogar grammatisch korrekte, aber da es in dieser Situation bestimmt nur Platitüden waren, brauchte ich auch nicht richtig zuzuhören, und
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