Lipstick
Revuestars gaben, der Geruch von modrigen Häusern, schlechter Kanalisation und lecker duftendem Fisch, den verhärmte Mütterchen auf primitiven Grills vor ihren Häusern zum Verkauf zubereiteten.Ab und zu hatte ich mir ein Täßchen Galão in einem der vielen Cafés genehmigt, ich war zum Hafen gewandert, hatte mir danach die eleganten Geschäfte in der Avenida de Roma angeschaut und war der felsenfesten Meinung, daß ein Mann in dieser Stadt nur stören würde.
Und trotzdem war ich den Weg zur »A Brasileira« wie ein Abc-Schütze abgelaufen: Exakt fünfundzwanzig Minuten brauchte ich von meiner Pension aus, den Hügel runter, bis zu dem Aufzug, dem »Elevador de Santa Justa«, den man unter Umständen nehmen konnte, um in den oberen Teil der Stadt und damit ins Chiado-Viertel zu gelangen (wobei es zu Fuß ungefähr aufs gleiche rauskam), dann noch etwa fünf Minuten zu Fuß vorbei an Antiquariaten und einem Lädchen mit tausendundeiner Kaffeesorte, Süßigkeiten und Espressomaschinen. Vor dem Café hatten Stühle und Tische gestanden, fast alle besetzt, ich war trotz der Wärme nach drinnen gegangen, um mir den Laden genauestens anzuschauen.
Jan hatte Geschmack, das mußte man ihm lassen: Die »A Brasileira« war erotischer als jedes Café, das ich bisher kennengelernt hatte. Alte, zum Teil blinde Spiegel hinter der unendlich lang erscheinenden Theke, davor Holztische, in Reihen aufgestellt – der Charme der Jahrhundertwende lugte aus jeder Ecke hervor, obwohl es das Café erst seit 1922 gab, wie ich meinem Reiseführer entnahm.
Nur vereinzelte Gestalten hatten im Innern gehockt, schwule Pärchen, auch ein älteres Ehepaar, ich hatte meine Bica – so sagte man hier für Espresso – getrunken und für einen kurzen Moment eine Welle von Panik in mir aufsteigen gefühlt. Was, wenn ich Jan schon in diesem Moment begegnete? Würde er denken, ach, die Kleine ist mir so verfallen, die reist schon ein paar Tage früher an, um ja nicht zu spät zu unserer Verabredung zu kommen? Zum Glück war es nicht passiert, aber ich hatte mich die ganze Zeit über nicht unbeobachtet gefühlt.
Noch während ich am frühen Nachmittag meinen obligatorischen Gang durch die Baixa aufnahm, war mir nicht klar, wie ich mich entscheiden würde. Ich ging zu Fuß in den oberen Teil der Stadt –es war kurz nach halb drei –, ließ die Baustelle des abgebrannten und zum Teil wieder aufgebauten Viertels links liegen, und als ich bei dem Kaffeeladen kurz vor der »A Brasileira« ankam, fing es plötzlich in meinem Darm an zu rumoren, es wurde drängender und drängender, so daß ich noch rennen mußte, um das Klo im Café auf den letzten Drücker zu erreichen. Ich hatte nicht nach links und nicht nach rechts geschaut, vielleicht saß Jan bereits irgendwo und lachte sich ins Fäustchen, weil ich in Anbetracht einer solchen Verabredung gleich Durchfall bekam.
O shit!
Leider hatte sich der Charme der Jahrhundertwende mit aller Konsequenz bis in den Klobereich fortgesetzt, so daß ich während der folgenden fünf Minuten tausend Tode starb und – da die Klospülung auch bei mir nicht funktionierte – ebenfalls dafür sorgte, daß der touristischen Nachwelt noch eine Portion mehr dekadenter Appeal erhalten blieb.
Als ich die Tür aufschloß, hockte Jan tatsächlich im Café und schaute mich an, als sei es völlig normal, daß ich jetzt und in dieser Sekunde bleich, von Brechreiz gebeutelt und mit knallroten Lippenstiftresten auf dem Mund aus der Toilette kam. Seine plötzliche Anwesenheit löste bei mir eine Art Schock aus. Mit zeitlupenartigen Bewegungen eierte ich auf ihn zu und setzte mich ihm gegenüber. Statt zu erröten, wurde ich schätzungsweise noch weißer als kalkweiß, und seine Worte drangen nur wie durch einen mehrfach übereinandergelegten Gazevorhang an mein Ohr.
»Ich hätte nicht gedacht … Wie schön, daß … Ist das nicht ein wunderbares Café?«
Als er endlich fertig war und mich nur noch mit verliebten Blicken bombardierte, platzte auf einmal der Knoten in meinem Gehirn, und ich begann, von einem mir völlig unbekannten Motor getrieben, ihn anzuschreien. Was ihm überhaupt einfalle, mich erst auf dieser Vernissage stehenzulassen, sich dann wochenlang nicht zu melden – und schließlich diese Order, nach Lissabon zu kommen! Für wen er sich denn eigentlich halte und ob er glaube, ich sei ein Stück Vieh, daß sich in der Gegend herumtreiben lasse, um weiß der Himmel wo zur Schlachtbank geführt zu werden? Zur
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