Lisa geht zum Teufel (German Edition)
immer griffbereit hatte. Keine Zettelwirtschaft mehr. Listen sorgen für Ruhe, reduzieren Denkarbeit und Stress, allerdings nehmen sie einem leider keine Entscheidungen ab. Lisa legte ihr Handy zur Seite und starrte etwas ratlos auf den Kleiderhaufen, der fein säuberlich nach Farben und Zweck sortiert vor ihr auf dem Bett neben dem bereits geöffneten Koffer drapiert war. Und was sich vor ihr türmte, war eindeutig zu viel. Es würde nicht in den Koffer passen. Von den zwanzig Kilo Gewichtsbeschränkung mal ganz abgesehen. Die Leinenhose mitnehmen oder doch lieber das luftige geblümte Strandkleid mit gewagtem Ausschnitt, das sie neben zwei Bikinis in Leuchtfarben, BHs mit Spitze, einer bestickten Jeans und zwei schicken Blusen im Turbogang vor Geschäftsschluss noch erworben hatte? Lisa konnte sich nicht daran erinnern, jemals so viele Sachen in so kurzer Zeit gekauft zu haben. Dank »Lesebrillensolidarität« mit der Verkäuferin war ihr rausgerutscht, dass sie sich für Reiner besonders hübsch machen wollte. Schon waren sie olympiareif zur Wäscheabteilung gejoggt, durch die Fashionmeile für junge Mode gejagt und am Bikiniständer entlanggepaddelt. Anproben im Zeitraffer. Fünfzehn Minuten! Schweißtreibend, aber von Erfolg gekrönt. Im Urlaub konnte man es sich leisten, farbenfrohe junge Mode zu tragen. Eine gute Entscheidung. Aber was, wenn sie sich damit lächerlich machte? Sofort hielt Lisa das neue Kleid vor sich hin. Die verspiegelte Front ihres Schlafzimmerschranks schien jedenfalls nichts gegen den flotten Look zu haben. Warum sonst lächelte ihr Spiegelbild sie an? Rein in den Koffer. Leinen war gestern. Langweilig. Als ob ihr Smartphone der gleichen Meinung wäre, meldete es sich mit einem fröhlichen »Bing«. Sicher die gestern gesetzte Erinnerung, heute spätestens um halb zehn mit dem Packen anzufangen. Halb zehn?! Wieso hatte sich Reiner noch nicht bei ihr gemeldet? Immerhin fuhren sie morgen in ihren ersten gemeinsamen Urlaub. Er meldete sich doch sonst mindestens täglich. Vielleicht war er auch gerade dabei, zu packen, beruhigte Lisa sich. Das musste wohl Gedankenübertragung sein. Schon kam der vertraute Dreiklang, der auf den Eingang einer SMS verwies. Lisa wusste jetzt schon, was er geschrieben hatte, bestimmt eine Nachricht wie: »Bist du auch am Packen?« Reiner liebte es, sie zu fragen, was sie gerade machte. Total süß! Die Nachricht aus vielen verschwommenen Buchstaben, die ihr auf ihrem Smartphone entgegensprang, sah aber länger aus, sogar ziemlich lang. Wo war nur die Lesebrille für zu Hause? Lisa zog sie hinter der Nachttischleuchte zwischen dem Stapel Unterwäsche hervor und konnte gar nicht anders, als erst einmal kurz aufzuseufzen und vor sich hin zu schmachten, bevor sie sich die Brille aufsetzte und zu lesen begann.
»Liebe Lisa. Ich bin wie gelähmt und finde wahrscheinlich nicht die richtigen Worte, aber ich kann morgen nicht mitfahren. Ich hab mir lange genug etwas vorgemacht. Du und ich … das geht nicht gut. Es tut mir wirklich leid, aber ich kann nicht anders. Reiner.«
Herzstillstand. Atemstillstand. Lebensstillstand. Lisa stand nur da, unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Das Handy war wie angewachsen in ihrer Hand, nur gab es ihr diesmal keinen Halt. Sie starrte es an, regungslos und so lange, bis der Energiesparmodus des Bildschirms seine Worte bis zur Unlesbarkeit abdimmte und sie mit einem stechenden Schmerz, der ihr abrupt und ohne Vorwarnung wie eine Hitzewelle vom Magen in den Kopf stieg, allein ließ.
Selbst an guten Tagen sah man in der Fensterscheibe einer S-Bahn ziemlich übel aus. Das Glas, in dem sich das Neonlicht spiegelte, schien das Gesicht optisch aufzuschwemmen, eine zweite Kontur darüberzulegen und Tränensäcke gleich zu verdoppeln. Man sah grundsätzlich kränklich darin aus. Nach einer schlaflosen Nacht war dieser Effekt umso schlimmer. Lisa vermied es tunlichst, in diese Richtung zu sehen, und blickte stattdessen auf den Boden, vielmehr auf die wenigen Quadratzentimeter, die sie, eingepfercht zwischen den Gepäckstücken Mitreisender, um ihre Füße herum noch hatte. Wenigstens musste man sich nicht festhalten. Umfallen wäre ein Ding der Unmöglichkeit.
»Möchten Sie sich setzen?«, bot ihr ein adretter Geschäftsmann an, der sich im prall gefüllten Waggon einen Platz ergattert hatte.
»Geht schon. Danke«, rang Lisa sich mit gequältem Lächeln ab. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Mann unter einem Aufkleber mit
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