Lisa geht zum Teufel (German Edition)
führte kein Weg vorbei. »Inneres Gleichgewicht« – schön und gut, aber wie schnell gerät es ins Wanken, wenn man sich morgens ungeschminkt im Spiegel sieht, und wie kann man ein schönes Inneres ausstrahlen, wenn sich niemand mehr für die runzlige Hülle interessiert?
»Fertig!« Anne knipste die Infrarotlampe aus.
Wie schade!
»Wie lange kennt ihr euch eigentlich schon, Reiner und du?«
»Ein paar Wochen«, sagte Lisa.
»Und dann nimmst du ihn gleich mit nach Spanien?«, fragte Anne.
»Warum nicht?« Lisa wunderte sich selbst darüber, wie selbstverständlich und überzeugend sie das eben von sich gegeben hatte.
»Ich beneide dich. Vier Wochen – Sonne, Cocktails, ein toller Mann … Vielleicht sollte ich auch im Verlagswesen arbeiten …« Anne seufzte, bevor sie ihr Pediküre-Set aufräumte.
»Du hättest das Zeug dazu, glaub mir«, sagte Lisa.
»Ich? Aber ich hab doch überhaupt keine Ahnung von Literatur.«
»Dafür umso mehr Überzeugungskraft.«
Anne stutzte, lachte dann aber herzhaft los. »Du meinst, jeder Buchhändler würde mir alles abkaufen, nur damit er mich möglichst schnell aus seinem Laden bekommt?«
»Das hast du gesagt.«
Annes Lachen war ansteckend. Das Tuch, das sie geholt hatte, um Lisa die Maske vom Gesicht zu wischen, brauchte sie jetzt nicht mehr. Lisas Lachmuskeln nahmen ihr die Arbeit größtenteils ab.
Karomuster mit aufgenähten Pailletten? Weg damit! Zurück auf den Kleiderständer – einer von so vielen in der Modeabteilung des Warenhauses, dessen Angebot einen manchmal erschlagen konnte. Geschäftliche Entscheidungen zu treffen war einfacher. In der Regel genügte es, die ersten fünf Seiten eines Manuskripts zu lesen, um einschätzen zu können, ob sich eine Stoffentwicklung lohnte, die Meinungen der Lektorinnen zu stützen oder zu kippen. Die Geschichte musste originell sein, die Figuren liebenswert, der Stil ansprechend. Das Besondere musste einem ins Auge springen. Für Lisa definitiv keine Qual der Wahl, kein Herumlamentieren, weder mit sich selbst noch mit ihren Kollegen. Ihre Stimme als dienstälteste Mitarbeiterin und Assistentin der Verlagsleitung wurde gehört. Organisation der Geschäftsabläufe? Kein Problem. Der beste Flug für ihren Chef? In Minutenschnelle. Was die Auswahl passender Kleidung für ihren Urlaub betraf, sah die Sache allerdings anders aus, vor allem wenn es um Marbella ging, ihr alljährliches Highlight. Auf gar keinen Fall durfte sie bei ihrer Clique mit der Abendrobe vom letzten Jahr aufschlagen. Mithalten zu können war aber alles andere als einfach. Modezeitschriften gaben immerhin die Farben und Schnitte des Sommers vor. Mit nichts anderem hatte sie sich wochenlang in den Mittagspausen beschäftigt. Zu dumm, dass die angesagten Trends nicht so recht zu ihrem Typ passten. Lisa zupfte bereits das nächste Kleid vom Kleiderständer. Blümchenmuster ging gar nicht. Auf ein Neues! Ein Blick auf die Armbanduhr. In einer halben Stunde würden die Läden schließen. Sie musste etwas finden. Hier und jetzt. Vielleicht doch lieber ein klassisches Designerkleid kaufen, das einem wenigstens die Möglichkeit gab, mit dem Label zu punkten? Zu teuer! Egal! Mehr als die Kaufingerstraße zweimal auf und ab zu pilgern konnte kein Mensch. Es musste so schnell wie möglich ein Kleid her! Auf der anderen Seite des Fashion-Dschungels dann das rettende Display in Sicht: »Mode für Frauen mit Style«. Sehr viel Rot und Orange. Nichts wie hin. Hatte Reiner ihr nicht gesagt, dass sie Rottöne gut tragen konnte? Das Kleid vom letzten Jahr war aber schon rot gewesen. Egal, Reiners Meinung war wichtiger. Mit einem Mann wie ihm an ihrer Seite würde sie Claudias und Vronis Sticheleien locker ertragen. Den beiden würde es sicher die Sprache verschlagen, wenn sie ihn sahen. Sie konnte also faktisch anziehen, was sie wollte. Er war das »Kleid«, das sie schmückte – jedenfalls in ähnlicher Funktion. Nicht träumen! Suchen! Rotgetupfte Orangetöne auf Braun? Trägt das eine Frau mit »Style«? Gewagte Kombination. Aber wer nicht wagt … Lisa zog das Kleid heraus und hielt es vor sich. Was sie im Ganzkörperspiegel sah, hatte was. Nett! Raffiniert! Frisch und munter, alles andere als banal. Der Stoff fühlte sich bestimmt gut auf der Haut an. Was kostete es überhaupt? Lisa zupfte nach dem Preisschild, das sich im Ärmel versteckte. Natürlich war der Preis so klein gedruckt, dass sie ihn ohne Brille nicht lesen konnte. Ausgerechnet jetzt interessierten
Weitere Kostenlose Bücher