Literaturgeschichte der USA
Selbstverwirklichung entwirft. In Edna Pontellier, Ehefrau und Mutter zweier Kinder, wird durch eine Urlaubsaffäre ein neues Selbstbewusstsein geweckt, das sie traditionelle Rollenbilder und Klischees viktorianischer Weiblichkeitsvorstellungen über Bord werfen lässt. Sie erlangt über ihre Malerei finanzielle Unabhängigkeit und verlässt ihre Familie, um eine sexuelle Beziehung mit einem anderen Mann einzugehen. Gefangen in ihrem Verantwortungsgefühl ihren Kindern gegenüber, versucht sie schließlich, ihre Pflichten als Mutter wieder aufzunehmen, wählt aber am Ende des Romans den Freitod, indem sie ins offene Meer hinausschwimmt.
Ein weiteres Beispiel, wie sich Protagonistinnen in den Texten weiblicher Autoren der Jahrhundertwende gegen patriarchale Strukturen auflehnten, ist
Charlotte Perkins Gilman
s (1860–1935) Kurzgeschichte «The Yellow Wallpaper» (1890). Wegen einer Depression nach der Geburt ihres Kindes wird der nicht näher bezeichneten Hauptfigur von ihrem Ehemann als Arzt eine Ruhekur verordnet, die sie völlig von der Außenwelt abgeriegelt in ein Zimmer verbannt. Diese mit dem Verbot von Lesen und Schreiben verbundene Therapie lässt die Frau in der gelben Tapete des Zimmers schließlich eine hinter dem Ornament des Designs gefangene Frau erkennen, die verzweifelt aus der ornamentalen Einkerkerung entfliehen möchte. Mit sich verschlechterndem Gemüts- und Gesundheitszustand beginnt die Protagonistin, die gelbe Tapete mit den Fingernägeln von der Wand zu kratzen. Die Tapete, beziehungsweise die Ornamentik auf ihrer Oberfläche, wird in der Geschichte zu einer Metapher viktorianischer Weiblichkeit, in der Frauen als ornamentale Objekte in einer patriarchalen Gesellschaft gefangen sind.
Gilman setzte sich aber nicht nur literarisch mit der Rolle von Frauen im viktorianischen Amerika auseinander, sondern analysierte in ihren Büchern
Women and Economics
(1898) und
The Home
(1903) Weiblichkeitskonzeptionen auch aus soziologisch-ökonomischer Perspektive. Bemerkenswert sind hier die Parallelen zwischen der literarischen Charakterisierung des Weiblichen als groteskes Ornament in «The Yellow Wallpaper» und der soziologischen Analyse der Rolle der Frau als heterogenes Konstrukt, das jeglichem arbeitsteiligen Prinzip der Spezialisierung entgegenwirkt.
The currents of home-life are so many, so diverse, so contradictory, that they are only maintained by using the woman as a sort of universal solvent; and this position of holding many diverse elements in solution is not compatible with the orderly crystallisation of any of them, or with much peace of mind to the unhappy solvent.[ 77 ]
Es gibt so viele Abläufe des häuslichen Lebens, so verschiedene, so gegensätzliche, dass sie nur aufrecht erhalten werden können, indem die Frau als eine Art universelles Lösungsmittel benützt wird; und derart verschiedene Elemente in einer Lösung zu halten, ist nicht kompatibel mit der ordnungsgemäßen Kristallisierung auch nur eines einzigen davon, oder mit dem inneren Frieden des unglücklichen Lösungsmittels.[ 78 ]
Das sozio-politische Interesse Gilmans an Weiblichkeit zeigt sich auch in ihrem utopischen Roman
Herland
(1912), der als Seriengeschichte in ihrer Zeitschrift
The Forerunner
erschien. Mit diesem Gesellschaftsentwurf einer idealen Frauengemeinschaft griff Gilman das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts äußerst produktive Genre der Sozialutopie aus feministischer Perspektive auf und begründete damit die moderne Gattung der Frauenutopie.
Während die einflussreichsten utopischen Romane des 19. Jahrhunderts wie
Edward Bellamy
s (1850–1898)
Looking Backward: 2000
–
1887
(1888) von Marxismus und Sozialismus beeinflusste Gesellschaftsentwürfe propagieren, nutzt Gilman die Gattung Roman als Projektionsfläche für geschlechtsspezifischeÜberlegungen und Anliegen, indem sie in
Herland
eine reine Frauengesellschaft entwirft. In einer von der Außenwelt abgeschlossenen Region Südamerikas treffen Amerikaner auf eine amazonenartige Frauengemeinschaft, die seit Jahrhunderten ohne Kontakt zu Männern existiert. Ihr Roman, der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Literaturwissenschaft wiederentdeckt wurde, hat maßgeblich die Entwicklung der feministischen Utopie und Science-Fiction beeinflusst.
Dass weibliches Schreiben um die Jahrhundertwende nicht notwendigerweise feministisch im engeren Sinn sein musste, demonstrieren die Romane
Edith Wharton
s (1862–1937). Ihre
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