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Little Bee

Little Bee

Titel: Little Bee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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unpersönlich zu betrachten. Es gab Probleme in Afrika, natürlich gab es die. Aber es hatte keinen Sinn, an einem bestimmten Ereignis zu kleben, ohne das Gesamtbild zu sehen. Lawrence betonte das immer wieder, und dieses eine Mal befolgte ich seinen Rat. Ich richtete Daueraufträge für zwei Hilfsorganisationen in Afrika ein. Wenn mich Leute fragten, was mit meinem Finger geschehen sei, sagte ich, Andrew und ich hätten im Urlaub einen Roller gemietet und einen kleinen Unfall gehabt. Meine Seele fiel in vorübergehende Starre. Zu Hause war ich ruhig. Bei der Arbeit der Boss. Nachts schlief ich nicht, hoffte aber, tagsüber auf Dauer zu funktionieren.
    Ich stand vom Boden in Charlies Zimmer auf. Betrachtete mich noch einmal im Spiegel. Ich hatte Tränensäcke unter den Augen und neue scharfe Falten auf der Stirn. Die Maske zeigte endlich Risse. Ich dachte, es geht nicht mehr um deine Entscheidungen. Denn die größte Sache in deinem Leben, die Sache, die Andrew getötet hat und dir den Schlaf raubt, ist ohne dich geschehen.
    Vor allem wurde mir klar, dass ich es jetzt wissen musste. Ich musste wissen, was geschehen war, nachdem die Mörder die Mädchen über den Strand davongeschleppt hatten. Ich musste wissen, was als Nächstes geschehen war.

    *

    Ich erwachte auf Sarahs Sofa. Zuerst wusste ich nicht, wo ich war. Ich musste die Augen aufmachen und mich umschauen. Auf dem Sofa lagen Kissen, sie waren aus orangefarbener Seide. Die Kissen waren mit Vögeln und Blumen bestickt. Die Sonne fiel durch die Fenster herein, und an den Fenstern waren Vorhänge, die bis auf den Boden reichten. Sie waren aus orangefarbenem Samt. Es gab einen kleinen Tisch mit einer Glasplatte, so dick, dass sie von der Seite grün aussah. Auf der Ablage unter der Tischplatte lagen Zeitschriften. In einer ging es um Mode und in einer anderen darum, wie man sein Haus schöner macht. Ich setzte mich auf und stellte die Füße auf den Boden. Der Boden war mit Holz bedeckt.
    Wenn ich den Mädchen zu Hause diese Geschichte erzählen würde, würden sie mich fragen: Was ist dieses Zeug, das du Samt nennst, und wie kommt es, dass die Frau, bei der du gewohnt hast, ihr Holz nicht neben dem Haus aufgestapelt hatte wie alle anderen? Wieso hatte sie es überall auf dem Boden herumliegen, war sie so faul? Und ich müsste ihnen sagen: Samt ist ein Stoff, der so weich ist wie die Unterseite kleiner Wölkchen, und das Holz auf Sarahs Boden war kein Feuerholz, sondern IN SCHWEDEN HERGESTELLTES SCHIFFSBODENPARKETT MIT ANTIKLACKIERUNG UND EINER DECKLAGE AUS ECHTHOLZ VON MINDESTENS 3 MM DICKE, ZERTIFIZIERT DURCH DEN FOREST STEWARDSHIP COUNCIL (FSC) FÜR DIE HERKUNFT AUS NACHHALTIGER WALDWIRTSCHAFT, BLOCKVERLEIMUNG MIT MODERNSTEN MASCHINEN, und das weiß ich, weil ich in der Zeitschrift über schöne Häuser, die unter der Tischplatte lag, eine Anzeige für genau so einen Boden gesehen habe. Und die Mädchen zu Hause würden die Augen aufreißen und Wah rufen, weil sie nun verstünden, dass ich an einem Ort jenseits des Endes der Welt angelangt war - einem Ort, an dem Holz von Maschinen gemacht wurde -, und sie würden sich fragen, welche Hexerei ich als Nächstes überleben würde.
    Stellt euch vor, wie ermüdend es für mich wäre, den Mädchen zu Hause meine Geschichte zu erzählen. Das ist der wahre Grund, weshalb keiner uns Afrikanern irgendetwas erzählt. Es liegt nicht daran, dass man meinen Kontinent in Unwissenheit halten will. Es liegt daran, dass niemand Zeit hat, sich hinzusetzen und die Erste Welt von Beginn an zu erklären. Vielleicht würdet ihr das ja gern, aber ihr könnt es nicht. Eure Kultur ist so komplex geworden wie ein Computer oder ein Medikament, das ihr gegen Kopfschmerzen nehmt. Ihr könnt es benutzen, aber nicht erklären, wie es funktioniert. Schon gar nicht den Mädchen, die ihr Feuerholz neben dem Haus aufstapeln.
    Würde ich euch beiläufig erzählen, dass Sarahs Haus in der Nähe eines großen Parks voller zahmer Hirsche lag, würdet ihr nicht aufspringen und rufen: Mein Gott! Hol mir mein Gewehr, dann jage ich eines dieser dummen Tiere! Nein, ihr würdet sitzenbleiben und euch weise das Kinn reiben und denken, Hm, das dürfte der Richmond Park in der Nähe von London sein.
    Dies ist eine Geschichte für gebildete Leute wie euch.
    Ich muss euch nicht beschreiben, wie der Tee schmeckte, den Sarah für mich machte, als sie an diesem Morgen ins Wohnzimmer ihres Hauses kam. In meinem Dorf haben wir nie Tee getrunken, obwohl er im Osten

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