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Little Bee

Little Bee

Titel: Little Bee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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etwa so. Dann trat der Anführer hinaus in die Wellen. Als ihm das Wasser bis zur Brust reichte, begann er zu schwimmen. Er schwamm hinaus ins Meer. Die Möwen flatterten vor ihm hoch und ließen sich wieder nieder. Sie wollten nur schlafen. Der Mann schwamm hinaus, gerade hinaus, und bald konnte ich ihn nicht mehr sehen. Er verschwand, und ich sah nur noch die Linie zwischen Meer und Himmel, und dann wurde es so heiß, dass selbst diese Linie verschwand. Da kam ich unter dem Boot hervor, denn ich wusste, dass die Männer schliefen. Ich schaute mich um. Niemand war am Strand, und es gab keinen Schatten. Es war so heiß, dass ich dachte, ich müsste schon davon sterben. Ich ging ans Meer und machte meine Kleider nass und rannte zum Hotelgelände. Ich rannte durch das flache Wasser, damit ich im Sand keine Spuren hinterließ. Ich gelangte an die Stelle, wo sie den Wachmann getötet hatten. Dort waren mehr Möwen. Sie kämpften um seine Leiche. Sie stoben auf, als ich über den Strand kam. Ich konnte sein Gesicht nicht ansehen. Kleine Krebse krabbelten aus seinen Hosenbeinen. Auf dem Boden lag eine Brieftasche, die hob ich auf. Es war Andrews Brieftasche, Sarah. Es tut mir leid. Ich schaute hinein. Es steckten viele Plastikkarten drin. Auf einer stand FÜHRERSCHEIN, und es war ein Foto von deinem Mann darauf. Die habe ich genommen. Daher habe ich deine Adresse. Es gab noch eine andere Karte, seine Visitenkarte mit der Telefonnummer, und die habe ich auch genommen. Sie wurde mir aus der Hand geweht, ins Wasser, aber ich habe sie zurückgeholt. Dann versteckte ich mich im Dschungel, aber so, dass ich den Strand sehen konnte. Es wurde kühler, und ein Lastwagen kam aus der Richtung des Hotelgeländes angefahren. Es war ein Militärlastwagen mit Plane. Sechs Soldaten sprangen heraus und betrachteten den Wachmann. Sie stießen mit den Stiefelspitzen gegen seine Leiche. Im Radio des Lastwagens lief >One< von Uz. Ich kannte das Lied. Es lief immer bei uns zu Hause. Eines Tages kamen nämlich die Männer aus der Stadt und schenkten uns Aufziehradios, eins für jede Familie im Dorf.
    Wir sollten sie aufziehen und den BBC World Service hören, aber meine Schwester Nkiruka stellte unseres auf den Musiksender in Port Harcourt ein. Wir stritten uns um die kleine Aufziehkiste, weil ich lieber Nachrichten hören wollte. Nun aber, da ich mich im Dschungel hinter dem Strand versteckte, wünschte ich, ich hätte nie mit meiner Schwester gestritten. Nkiruka liebte Musik, und jetzt begriff ich, dass sie recht hatte, weil das Leben sehr kurz ist und man zu Nachrichten nicht tanzen kann. Da fing ich an zu weinen. Ich weinte nicht, als sie meine Schwester töteten, aber jetzt, als ich die Musik aus dem Lastwagen der Soldaten hörte, weinte ich, weil ich denken musste: Das ist das Lieblingslied meiner Schwester, und sie wird es nie wieder hören. Hältst du mich jetzt für verrückt, Sarah?«
    Sarah schüttelte den Kopf. Sie kaute auf ihren Nägeln.
    »In meinem Dorf mochten alle Uz«, sagte ich. »Vielleicht sogar alle in meinem Land. Wäre das nicht komisch, wenn auch die Ölrebellen in ihren Dschungelcamps Uz gespielt hätten, so wie die Regierungssoldaten in ihren Lastwagen? Ich glaube, alle haben einander getötet und dieselbe Musik gehört. Weißt du was? In meiner ersten Woche im Abschiebegefängnis waren Uz auch hier auf Nummer eins. Das ist wirklich ein toller Trick in dieser Welt, Sarah. Keiner mag den anderen, aber alle mögen Uz.«
    Sarah verschlang die Hände auf dem Tisch. Sie schaute mich an. »Kannst du weitererzählen? Kannst du mir erzählen, wie du dort weggekommen bist?«
    Ich seufzte. »Okay. Die Soldaten wippten mit ihren Stiefeln zur Musik. Sie rollten die Leiche auf ein Tuch. Dann hoben sie das Tuch an den Ecken hoch und trugen es in den Lastwagen. Ich dachte, vielleicht sollte ich zu ihnen laufen und sie um Hilfe bitten. Aber ich hatte Angst, also blieb ich, wo ich war. Die Soldaten fuhren über den Strand davon, und dann war es wieder ganz still. Als die Sonne unterging, beschloss ich, nicht aufs Hotelgelände zu gehen. Ich hatte zu viel Angst vor den Soldaten, also ging ich in die andere Richtung. Überall waren Fledermäuse in der Luft. Ich wartete, bis es dunkel war, bevor ich die Stelle passierte, an der sie meine Schwester getötet hatten. Es schien kein Mond, man sah nur ein blaues Leuchten von den kleinen Lebewesen im Meer. Dann und wann sickerte ein Süßwasserbach über den Strand, aus dem ich trinken konnte.

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