Little Bee
merkte, dass ich vor Wut schrie. Lawrence lachte nur.
»Egoistisch! Du? Hast du etwa den letzten Keks aus der Dose genommen? Hast Sarah mit leerem Kühlschrank hängen lassen?«
»Ich habe Sarahs Ehemann hängen lassen«, sagte ich.
Lawrence starrte mich an. »Was?«
Ich nahm einen Schluck Tee, aber er war jetzt kalt, also stellte ich den Becher auf den Tisch. Das Licht in der Küche wurde auch kühler. Ich sah, wie das Leuchten der Gegenstände im Raum verschwand, und spürte die Kälte, die in meine Knochen drang. Mein ganzer Zorn war verebbt.
»Lawrence?«
»Ja?«
»Vielleicht ist es wirklich besser, wenn ich woanders hingehe.«
»Moment. Warte. Was hast du da eben gesagt?«
»Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht ist es besser für Sarah und für Charlie und für Sie, wenn ich nicht hier bin. Ich könnte einfach weglaufen. Ich kann gut laufen, Lawrence.«
»Halt den Mund«, sagte er leise. Er umklammerte mein Handgelenk.
»Hören Sie auf! Das tut weh!«
»Sag mir, was du getan hast.«
»Ich will es Ihnen nicht sagen. Jetzt habe ich Angst.«
»Ich auch. Rede.«
Ich klammerte mich an die Tischkante und atmete gegen meine Angst an. »Sarah sagte, es wäre seltsam, dass ich am Tag von Andrews Beerdigung gekommen bin.«
»Und?«
»Es war kein Zufall.«
Lawrence ließ meinen Arm los und stand schnell auf und legte die Hände in den Nacken. Er trat ans Küchenfenster und schaute lange hinaus. Dann drehte er sich zu mir um. »Was ist passiert?«, flüsterte er.
»Das sollte ich Ihnen lieber nicht erzählen. Ich hätte nichts sagen sollen. Ich war wütend.«
»Sag's mir.«
Ich schaute auf meine Handrücken. Mir wurde bewusst, dass ich es jemandem erzählen wollte, und Sarah konnte ich es nicht sagen. Ich sah zu ihm hoch.
»Ich habe Andrew an dem Morgen angerufen, als sie mich aus dem Abschiebegefängnis entließen. Ich habe ihm gesagt, dass ich käme.«
»Ist das alles?«
»Dann bin ich vom Abschiebegefängnis zu Fuß hierher gegangen. Zwei Tage habe ich gebraucht. Ich habe mich im Garten versteckt.« Ich zeigte durchs Fenster. »Da, hinter dem Busch, wo die Katze sitzt. Dann habe ich gewartet. Ich wusste nicht, was ich eigentlich tun wollte. Ich glaube, ich wollte mich bei Sarah bedanken, weil sie mich gerettet hatte, aber auch Andrew bestrafen, weil er zugelassen hat, dass meine Schwester getötet wurde. Und da ich nicht wusste, wie ich beides anstellen sollte, habe ich gewartet. Ich wartete zwei Tage und zwei Nächte und hatte nichts zu essen. Also kam ich raus, wenn es dunkel war, und aß Vogelfutter und trank Wasser aus dem Hahn draußen am Haus. Tagsüber schaute ich durch die Fenster hinein und hörte ihnen zu, wenn sie in den Garten kamen. Ich hörte, wie Andrew mit Sarah und Charlie sprach. Er war schrecklich. Er war ständig wütend. Er wollte nicht mit Charlie spielen. Wenn Sarah etwas sagte, zuckte er nur mit den Schultern oder brüllte sie an. Auch wenn er allein war, hörte er nicht auf mit Schulterzucken und Brüllen. Er stand ganz allein am Ende des Gartens und redete, und manchmal schrie er sich selbst an oder schlug sich mit der Faust auf den Kopf, so. Er weinte viel. Manchmal fiel er im Garten auf die Knie und weinte eine Stunde lang. Da wurde mir klar, dass er voll böser Geister steckte.«
»Er litt unter Depressionen. Das war sehr schwer für Sarah.«
»Ich glaube, für ihn war es auch schwer. Ich habe ihn lange beobachtet. Einmal schaute ich ihn zu eindringlich an, als er weinte, und vergaß, mich zu verstecken, und er schaute hoch und sah mich. Ich dachte, oh nein, das war's nun für dich, Little Bee. Doch Andrew kam nicht zu mir her. Er starrte mich an und sagte: Oh Gott, du bist nicht real, du bist nicht hier, verschwinde aus meinem Kopf, verdammt noch mal. Er kniff die Augen zu und rieb sie, und währenddessen versteckte ich mich wieder hinter dem Busch. Als er die Augen öffnete, schaute er zu der Stelle, wo ich gewesen war, sah mich aber nicht. Da redete er wieder mit sich selbst.«
»Er hat dich für eine Halluzination gehalten? Armes Schwein.«
»Ja, aber zuerst tat er mir nicht leid. Erst später. Am dritten Tag kam er wieder in den Garten, als Sarah bei der Arbeit und Charlie im Kindergarten war. Er war betrunken, glaube ich. Er sprach langsam und verdreht.«
»Das lag an den Medikamenten«, sagte Lawrence. Sein Gesicht war jetzt ganz weiß, und er starrte mich mit schimmernden Augen an. »Weiter.«
»Es war noch früh am Morgen. Andrew fing an zu brüllen.
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