Little Brother
das Gefühl, er und ich seien nun ein Team. Ein geheimes Team.
Ich hatte zwei Tage Schule verpasst, aber anscheinend hatte ich nicht viel Unterricht verpasst. An einem der Tage, als die Stadt mühsam wieder zur Besinnung kam, hatten sie die Schule geschlossen. Am nächsten Tag hatten sie sich, wies schien, ausschließlich damit beschäftigt, um diejenigen von uns zu trauern, die vermisst wurden und wahrscheinlich tot waren. Die Zeitungen veröffentlichten Biografien der Vermissten und persönliche Erinnerungen. Das Web war voll mit Tausenden solcher Nachrufhülsen.
Blöderweise war ich einer von diesen Leuten. Kaum kam ich ahnungslos auf den Schulhof, war ein Schrei zu hören und sofort standen hundert Leute um mich rum, klopften mir auf die Schultern, schüttelten meine Hand. Ein paar Mädchen, die ich nicht mal kannte, küssten mich, und das waren nicht bloß freundschaftliche Küsse. Ich fühlte mich wie ein Rockstar.
Meine Lehrer waren kaum zurückhaltender. Ms. Galvez weinte fast so sehr wie meine Mutter und umarmte mich drei Mal, bevor sie mich an meinen Platz gehen ließ. Da war was Neues vorn im Klassenzimmer. Eine Kamera. Ms. Galvez sah, wie ich dorthin starrte, und gab mir eine Einverständniserklärung auf kopiertem, verschmiertem Schulbriefpapier.
Die übergeordnete Schulbehörde des Bezirks San Francisco hatte übers Wochenende eine Dringlichkeitssitzung einberufen und einstimmig beschlossen, von den Eltern jedes Schülers in der Stadt das Einverständnis einzuholen, in jeder Klasse und jedem Flur Überwachungskameras zu installieren.
Das Gesetz besagte zwar, dass man uns nicht zwingen konnte, eine komplett überwachte Schule zu besuchen, aber davon, dass wir unsere verfassungsmäßigen Rechte auch freiwillig aufgeben könnten, stand nichts drin. In dem Brief hieß es, dass die Behörde sicher sei, das Einverständnis aller Eltern der Stadt zu erhalten, dass man es aber auch einrichten wolle, Kinder nicht damit einverstandener Eltern in "ungeschützten" Klassenzimmern zu unterrichten.
Warum hatten wir jetzt Kameras in den Klassenzimmern? Terroristen, na klar. Weil sie damit, dass sie eine Brücke sprengten, angedeutet hatten, dass als Nächstes Schulen an der Reihe waren. Jedenfalls war das die Erkenntnis, zu der die Behörde gelangt war.
Ich las die Mitteilung drei Mal durch und hob dann die Hand.
"Ja, Marcus?"
"Ms. Galvez, eine Frage zu dieser Mitteilung."
"Was denn, Marcus?"
"Geht es denn bei Terrorismus nicht darum, uns Angst zu machen? Das ist doch, warum es Terrorismus heißt, oder?"
"Ich glaube schon." Die Klasse starrte mich an. Ich war nicht der beste Schüler dieser Schule, aber ich liebte anständige Diskussionen in der Klasse. Die anderen warteten gespannt drauf, was ich als Nächstes sagen würde.
"Tun wir dann also nicht genau das, was die Terroristen von uns erwarten? Die haben doch gewonnen, wenn wir völlig panisch sind und Kameras in Klassenräumen installieren und all so was, oder?"
Nervöses Tuscheln. Einer der anderen hob die Hand. Es war Charles. Ms. Galvez rief ihn auf.
"Kameras zu installieren macht uns sicherer, und das macht uns weniger ängstlich."
"Sicher wovor?", fragte ich, drauf zu warten, aufgerufen zu werden.
"Terrorismus", sagte Charles. Die anderen nickten mit den Köpfen.
"Aber wie denn? Wenn hier ein Selbstmordattentäter reinrauschen und uns alle hochjagen würde ..."
"Ms. Galvez, Marcus verletzt die Schulregeln. Wir sollen doch keine Witze über Terroranschläge machen."
"Wer macht hier Witze?"
"Vielen Dank, ihr beiden", sagte Ms. Galvez. Sie sah ziemlich unglücklich aus, und es tat mir ein bisschen Leid, ihren Unterricht dafür beansprucht zu haben. "Ich denke, das ist eine wirklich interessante Diskussion, aber ich möchte sie auf später vertagen. Ich glaube, diese Dinge sind noch zu gefühlsbeladen, als dass wir sie heute schon diskutieren sollten. Jetzt also bitte zurück zu den Suffragisten, ja?"
Also verwendeten wir den Rest der Stunde darauf, über die Suffragisten zu sprechen und über die neuen Lobbyismus-Strategien, die sie entwickelt hatten: Wie sie vier Frauen ins Büro jedes einzelnen Kongressabgeordneten geschickt hatten, um ihm klarzumachen, was es für seine politische Zukunft bedeuten würde, wenn er Frauen auch weiterhin das Wahlrecht verweigern sollte.
Normalerweise mochte ich solche Sachen - kleine Leute, die die Großen, Mächtigen dazu brachten, ehrlich zu sein. Aber heute konnte ich mich nicht konzentrieren. Das musste
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