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Little Brother

Little Brother

Titel: Little Brother Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cory Doctorow
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Hunderte ihm unbekannte Leute töten zu müssen, nur um irgendwas zum Ausdruck zu bringen."
    Das musste ich erst mal verdauen. Ich meine, klar hatte ich begriffen, dass sie sich Sorgen gemacht hatten. Eine Menge Leute waren bei den Bombenanschlägen gestorben - die aktuelle Schätzung lag bei viertausend -, und praktisch jeder kannte jemanden, der an diesem Tag nicht nach Hause gekommen war. An meiner Schule waren zwei Leute verschwunden.
    "Dein Vater war so weit, jemanden zu töten. Irgendwen. Er war völlig außer sich; so hast du ihn noch nie gesehen. Nicht mal ich habe ihn schon mal so gesehen. Völlig außer sich. Er saß immer nur hier am Tisch und fluchte und fluchte und fluchte. Gemeine Worte, die ich ihn noch nie hatte sagen hören. An dem einen Tag - am dritten Tag - rief jemand an, und er war sicher, dass du es warst, aber es hatte sich bloß jemand verwählt, und da schmiss er das Telefon so in die Ecke, dass es in tausend Teile zerfallen ist." Ich hatte mich schon gefragt, weshalb das Telefon in der Küche neu war.
    "Irgendetwas ist in deinem Vater zerbrochen. Er liebt dich. Wir lieben dich beide. Du bist das Allerwichtigste in unserem Leben, und ich glaube nicht, dass dir das klar ist. Erinnerst du dich, als du zehn warst, als ich für diese lange Zeit heim nach London ging? Erinnerst du dich?"
    Ich nickte stumm.
    "Damals waren wir so weit, uns scheiden zu lassen, Marcus. Oh, es ist jetzt egal, warum. Wir hatten bloß eine ganz schlechte Phase, wie das eben passiert, wenn Leute, die sich lieben, sich für ein paar Jahre nicht mehr richtig umeinander kümmern. Und er kam rüber zu mir und überzeugte mich, dass ich deinetwegen zurückkommen müsse. Wir konnten den Gedanken nicht ertragen, dir das anzutun. Deinetwegen haben wir uns wieder ineinander verliebt. Und deinetwegen sind wir heute noch zusammen."
    Jetzt hatte ich einen Kloß im Hals. Das hatte ich nicht gewusst. Das hatte mir nie jemand gesagt.
    "Für deinen Vater ist das jetzt eine schwere Zeit. Er ist nicht richtig er selbst. Es wird eine Weile dauern, bis er wieder zu uns zurückkommt; bis er wieder der Mann ist, den ich liebe. Bis dahin müssen wir versuchen, ihn zu verstehen."
    Sie umarmte mich eine Weile, und ich bemerkte, wie dünn ihre Arme geworden waren und wie faltig die Haut in ihrem Nacken. Wenn ich an meine Mutter dachte, sah ich sie immer jung, blass, mit rosigen Wangen und einem strahlenden Lächeln vor mir, wie sie schlau durch ihre metallgefassten Brillengläser schaut. Jetzt sah sie aus wie eine alte Frau. Ich hatte ihr das angetan. Die Terroristen hatten ihr das angetan. Die Heimatschutzbehörde hatte ihr das angetan. Auf eine merkwürdige Weise waren wir alle auf der gleichen Seite, und Mom und Dad und all die Leute, deren Daten wir manipuliert hatten, waren auf der anderen Seite.
    [x]
    In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Moms Worte schwirrten durch meinen Kopf. Dad war beim Abendessen angespannt und schweigsam gewesen, und wir hatten kaum ein Wort gewechselt, weil ich Angst hatte, ein falsches Wort zu sagen, und weil er sehr erregt über die neuesten Meldungen war, nach denen Al Kaida definitiv für die Bombenanschläge verantwortlich war. Sechs verschiedene Terrorgruppen hatten Verantwortung für die Angriffe übernommen, aber nur das Internetvideo von Al Kaida enthielt Informationen, von denen das DHS sagte, man habe sie nicht öffentlich gemacht.
    Ich lag im Bett und hörte eine Late-Night-Anrufshow im Radio. Das Thema war Sexprobleme, mit diesem schwulen Typ, den ich normalerweise total gern hörte, weil er den Leuten ziemlich derbe, aber gute Tipps gab und sehr lustig und schwülstig war.
    Heute Nacht konnte ich nicht lachen. Die meisten Anrufer wollten wissen, wie sie damit umgehen sollten, dass sie seit den Attentaten mit ihren Partnern nicht mehr in die Gänge kamen. Nicht mal im Sexprogramm im Radio war ich vor diesem Thema sicher.
    Ich schaltete das Radio aus und hörte unten auf der Straße einen Motor schnurren.
    Mein Schlafzimmer ist im obersten Stock unseres Hauses, einer dieser lackierten Ladies. Ich habe ein Schrägdach und Fenster auf beiden Seiten; eins davon überblickt den gesamten Mission-Distrikt, das andere die Straße vor unserem Grundstück. Dort fuhren zu allen Nachtstunden Autos vorbei, aber dieses Motorengeräusch war irgendwie anders.
    Ich ging zum Straßenfenster und zog die Jalousien hoch. Auf der Straße unter mir war ein weißer, unbeschrifteter Lieferwagen, dessen Dach mit mehr

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